Risse im Ring aus Stahl

Nils Normans Reader „The Contemporary Picturesque“ dokumentiert, wie sich innerstädtisches Kontrolldesign entwickelt hat. Unterdessen entwirft Janice Kerbel mit „15 Lombard St.“ daran das Szenario des perfekten Banküberfalls, Fluchtwege inklusive

von JOCHEN BECKER

Wer Anfang Mai aufmerksam durch Berlin-Kreuzberg geht, erkennt an den geflickten Bürgersteigen Spuren der Straßenschlachten. Hier liegt der zum Wurfgeschoss umfunktionierbare Pflasterstein noch locker im Sand. Um diese Möglichkeit auszuschließen, wurden die Straßen von Paris unter Baron Haussmann mit Holzplanken ausgelegt. Dies erfährt man in Nils Normans Broschüre „The Contemporary Picturesque“, die nach Art eines Katalogs die Formen städtischer Kontrollmöblierung, aber auch Orte des Widerstands auflistet und umschreibt. Das nüchtern gehaltene Buch zu den umkämpften innerstädtischen Räumen legt ein Bildglossar der abweisenden Architekturen an und kontrastiert diese mit improvisierten Aktionsformen zu deren Rückeroberung. Unter Nutzung diverser Quellen sowie in der Mehrzahl eigener Aufnahmen entstand so ein Archiv des zeitgenössisch-pittoresken Stadtlebens.

Mit der Überschrift „Urbanomics“ umschreibt der zwischen London und den USA pendelnde Künstler eine Vorgeschichte der städtischen Kontrollgesellschaft. Was spätestens seit dem vor zehn Jahren erschienenen Buch „City of Quartz“ von Mike Davis zum allgemeinen Kenntnisstand aufgeklärter Stadtsoziologie gehört, hat seine historischen Vorläufer. Schon unter Napoleon III. trafen Börsenhype, Gentrification und städtischer Aktivismus aufeinander. Unter der Regie des kaiserlich beauftragten Stadtbaumeisters Georges Eugène Haussmann sollten soziale Probleme mit tiefen Einschnitten in die Stadt Paris aufgelöst sowie künftige Aufstände und Straßenschlachten vermieden werden. Die Revolution von 1848 dürfe sich – bei steigender Armut in einer sich explosionsartig vergrößernden Stadt – nicht noch einmal wiederholen.

Taktiken des Straßenkampfes gehörten von nun an zum Lehrstoff der Militärakademien. Die Karten von Paris wurden mit einem System strategischer Boulevards neu ausgerichtet. Diese garantierten rasche Truppentransporte und ungehinderten Kugelflug, und zugleich erschwerten sie den erstmals 1827 erfolgten Barrikadenbau. Auch die Stadtmöblierung nahm hier ihren Anfang: Laternen, Bäume, Bänke und Kioske säumten die Straßen. Für die Bewohnerschaft der Vororte war die Metropole bald nur mehr ein touristischer Ort. „Zeitgenössische Straßenmöbel und Überwachungstechnologien sind die physische Infrastruktur, die auswärts gerichteten Zeichen der Einübung, Regulation und Korrektur des Verhaltens“, kommentiert Nils Norman die Geburt der neuen Stadt.

Poller als Regulatoren

Die omnipräsenten Poller – früher zumeist Kanonenkugeln, heute speziell gefertigte Metallpfosten – sind seit dem frühen 17. Jahrhundert bekannt. Alleine die Innenstadt Londons durchziehen zudem 16 Kilometer metallene Gatter. Diese Regulatoren sind nach psychologischen Daten, funktionalen Sicherheitsanforderungen und einer, wie Norman es nennt, „ideologisch informierten Ästhetik“ gestaltet. Den Haustüren vormontierte Drahtkörbe sollen das Sitzen oder Liegen vor Eingangsbereichen erschweren. Mit Nagelstreifen werden Rolltreppen gegen das Herunterrutschen, aber auch Fensterbänke oder Eingangstüren gegen „Herumlungernde“ gewappnet. Automatische Sprinkleranlagen in öffentlichen Parks sowie penetrantes Putzen in Bahnhöfen sollen unliebsame Personen verjagen. Mit Schließung öffentlicher Toiletten stehen diese weder als Waschgelegenheiten für Obdachlose noch als schwule Kontaktorte zur Verfügung.

Die Demontage von Papierkörben in London gilt der Bombengefahr, aber auch um Personen daran zu hindern, noch etwas Verwertbares herauszufischen. Mehr und mehr gittert man deshalb auch Mülltonnen ab. Parkbänke werden durch lehnenlose Hocker ersetzt, auf denen weder längeres Ausruhen noch Schlafen mehr möglich ist. Auch das Berliner Anti-Graffiti-Design der U-Bahn-Sitze findet hier seinen Platz im Katalog der urban control: Die Stadtmöblierung ist voller erzieherischer Maßnahmen, die das Verhalten in vorgezeichnete Bahnen lenken möchten.

Seit 1961 wird in Großbritannien videoüberwacht. Allein im Finanzbezirk sind 1.250 Kameras installiert, und an acht Durchlasspunkten des „Ring of Steel“ sind automatische Registraturen der Nummernschilder aufgebaut. Dort werden auch die Gesichter der FahrerInnen registriert. Das digitale System kann so in einer Stunde 300.000 Fahrzeuge speichern, verarbeiten und mit eine Datenbank gesuchter Personen und Wagen abgleichen. Bei Verdacht schlägt das System nach vier Sekunden Alarm. Nun soll das Kontrollsystem über die City of London hinaus ausgedehnt werden. Nils Norman beschreibt Londons Zugangskontrolle als Hi-Tech-Rückkehr des mittelalterlichen Stadttors. Dieser „Ring of Steel“ ist ein erschütterndes Symbol städtischer Verteidigungssysteme und zeigt zugleich, wie heftig umkämpft manche Terrains trotz allem Edelstahl-Design sind.

„Reclaim the streets“ heißt eine Initiative, die sich dieses Straßenland zurückerobern möchte. Höhepunkt war die Aktion „J 18“, als am 18. Juli 1999 in 30 Städten zugleich gegen den Weltwirtschaftsgipfel in Köln ein globaler „Karneval gegen Unterdrückung“ abgehalten wurde. In London enterte die Aktion den City genannten Finanzdistrikt der Stadt, der mit dem „Ring of Steel“ vorgeblich Bombenattacken der IRA abhalten soll. „Reclaim the streets“ erstritt sich dabei nicht nur die Bürgersteige zurück, sondern auch das Anrecht auf öffentlichen Raum, der von Clubs und Medien über andere kulturelle Praktiken weit in die allgemeinen Lebensverhältnisse ragt. Dazu gehört das Recht auf freie Meinungsäußerung – von wilder Plakatierung und Aufklebern an Laternenpfosten bis zur Übermalung oder Kommentierung von Werbepostern.

Beim Park vor dem New Yorker Rathaus entdeckte Nils Norman einen dreifach gestaffelten Zaun sowie mechanisch aus dem Boden hochfahrbare Autoblockaden. Dem stellt er „Reclaim the streets“-Barrikaden in der Londoner Claremont Road gegenüber, mit denen über eine lange Zeit der Bau der Autobahn M 11 aufgehalten werden konnte. Bauschutt, eingegrabene Autowracks, auf den Asphalt ausgelegter Rasen sowie ein abenteuerliches Metallgerüst auf den zur Räumung vorgesehenen Häusern erschwerten den Zugriff der Ordnungsmacht. Eine neue Form der medial vermittelbaren Blockade ist das Dreibein, in das sich meterhoch über der Straße AktivistInnen einhängen, die von der Polizei nur unter akuter Gefährdung der Person geräumt werden können. Schon die Sufragetten wussten sich mit Handschellen vor dem Sitz des Premierministers in der Downing Street anzuketten, so wie man es jetzt von CastorgegnerInnen her kennt: den eigenen Körper zur Barrikade machen. Zum Auftakt der von Norman kompilierten Bilder sieht man jedoch ein Bündel Kabelbinder in der Hand von Polizisten, die als billige Plastikhandschellen fungieren.

Ökonomie im Grünen

„Soft Landscape“ nennt Nils Norman die Regulation der Stadt mittels Parkanlagen. Der zu einiger Berühmtheit gelangte Tomkins Square Park – hier fanden im Rahmen der Gentrification der Lower East Side Anfang der 90er-Jahre erbitterte Schlachten zwischen Polizei sowie HausbesetzerInnen und Obdachlosen statt – ist nunmehr zu einer panoptisch einsehbaren Anlage zurechtgestutzt worden. Man hat die Fußwege erweitert, um für Polizeiautos auf ihrer Patrouillenfahrt Platz zu schaffen, und Grünflächen in privat bewirtschaftete „Schaugärten“ umgewandelt, damit sie die nahe gelegenen Anwesen aufwerten. Um Bürogebäude herum angepflanzte Büsche und Kriechgewächse bilden einen Verteidigungsring gegen Ruhe Suchende oder Protestierer. Werden diese Pflanzen in Betonkübel eingetopft, fungieren sie zudem als „Massenbrecher“ (Norman) und stoppen, je nach Abstand, Autos wie Skater vor dem Weiterfahren. Ebenfalls in New York trifft man aber auch noch auf Reste der Community Gardens, die auf ehemaligem Ruinengrund von den AnwohnerInnen angelegt wurden und alle offen stehen. Sie sind einige der wenigen Flecken Erde, die sich der ökonomischen Verwertung noch entziehen.

In London wiederum hat die Bewegung „This land is ours“ Gärten und Hütten aus Abfall errichtet, um sich so unbebaute Flächen dauerhaft anzueignen. Das Protestcamp in Newburry dagegen ist zu einem Dorf in den Lüften gewachsen, dessen Häuser untereinander mit Skywalks aus Seilen verbunden sind, um rasch den Standort wechseln zu können. Die strategische Errichtung von Baumhäusern spielt mit Referenzen auf Robin Hood bis hin zur Kinostory der putzigen Ewoks. Das Buch dokumentiert die Anlage mit Zelt- und Holzkonstruktionen in den Astgabeln, die die Räumung des Areals verzögern und zugleich ein medial vermittelbares Bild des Widerstands abgeben sollten.

„Ich habe über die Jahre ein Archiv mit Material zu sozialer Kontrolle, Stadtdesign und experimentellen Orten des Widerstands gesammelt, das meine Praxis als individueller Künstler und als Mitglied von Kollektiven stark beinflusst hat“, erläutert Norman in einem Interview seine Sammler- und Recherchetätigkeit. Beispiele aus Großbritannien und den USA, aber auch Tel Aviv, Odense, Hamburg oder Berlin demonstrieren den „micro-cold war, der in unseren Innenstädten ausgetragen wird“.

Die von Stefan Kalmár kuratierte Buchreihe im Design des Wiener Künstlers und Grafikers Florian Pumhösl, in der Normans „Contemporary Picturesque“ erschienen ist, umfasst neben Bänden von Doug Aitken und Angela Bulloch auch noch „15 Lombard St.“ von Janice Kerbel. In diesem kleinen Band stellt die kanadische Künstlerin einen Bankraub präzise nach – auch dies ein Weg, den mikro-kalten Krieg in den Städten zu überstehen. Mit Klapptafeln, Karten, Erkundungsfotos, Ablaufplänen und, je nach Beteiligten, ausgelegten Aktionslisten entwirft Kerbel den Masterplan für einen Banküberfall mitten in der City of London. Bei einem Geldinstitut der exklusiven Investmentbank Coutts & Co., deren KundInnen erst ab 500.000 Pfund ein Konto erhalten, sollen unmarkierte Scheine erbeutet werden. Stinkbomben und Störsender, Verkleidungen und Straßenblockaden im Schatten der allgegenwärtigen Videoüberwachung bilden das Arsenal eines perfekten Überfalls. Zum Schluss sollen sich alle in einer Villa im spanischen Garrucha wiedertreffen, um die Beute zu teilen.

Janice Kerbels trocken niedergelegter Plott funktioniert wie im Kriminalroman, bei dem Gangster wie Polizei den alltäglichen Dingen eine geschärfte Aufmerksamkeit zukommen lassen. Plötzlich wird normalerweise Übersehenes zum entscheidenden Detail der Flucht oder Überführung. Die Überwachung überwachend muss jeder Schritt bedacht sein: Mit „15 Lombard St.“ stellt sich die Autorin eindeutig auf die Seite der Gangster – und vor allem gegen das Phantasma der totalen Kontrolle.

Nils Norman: „The ContemporaryPicturesque“. Book Works London, 2000, ISBN 1-870699-43-2, £ 12Janice Kerbel: „15 Lombard St.“.Book Works London, 2000,ISBN 1-870699-45-9, £ 12