Apparatschik mit großen Ambitionen

Der Chef des staatlichen weißrussischen Gewerkschaftsverbandes, Wladimir Gontscharik, will neuer Präsident werden

Der offene Brief an Weißrusslands Präsident Alexander Lukaschenko war klar und deutlich: „Ich muss mich jetzt öffentlich an Sie wenden, Alexander Grigoriewitsch. Wie Sie wissen, ist die Öffentlichkeit durch das Verschwinden bekannter Personen sehr beunruhigt. Zeugenaussagen von zwei Ermittlern im Dienste der Staatsanwaltschaft geben uns Grund zu der Annahme, dass hohe Bedienstete des Innenministeriums und des Sicherheitsrates an den Morden Ihrer politischen Gegner direkt beteiligt waren“, heißt es da.

Verfasst hat das Schreiben Wladimir Gontscharik, Chef des staatlichen weißrussischen Gewerkschaftsverbandes. Doch seit dem vergangenen Wochenende hat der 61-Jährige noch eine weitere, weitaus pikantere Aufgabe: Als gemeinsamer Kandidat, auf den sich die Opposition nach langen Diskussionen endlich geeinigt hat, soll er bei den Präsidentschaftswahlen am 9. September Amtsinhaber Lukaschenko entthronen.

Auch bei einer Pressekonferenz vor einigen Tagen ging Gontscharik in die Offensive. „Die Regierung hält bewusst Informationen zurück, die die Entführung prominenter Weißrussen betreffen, und tut so, als sei überhaupt nichts passiert“, sagte er und präsentierte brisante Dokumente, die beweisen sollen, dass die Staatsmacht für das Verschwindenlassen und den Mord an so namhaften Politikern wie den ehemaligen Innenminister Juri Sacharenko verantwortlich ist. Diese Offenheit Gontschariks ist für ihn nicht gerade typisch.

Im Gegenteil: Der 61-Jährige, Ökonom und Absolvent der Akademie der Gesellschaftwissenschaften beim Zentralkomitee der KPdSU, hat eine klassische Apparatschik-Karriere im Schutze der mächtigen Nomenklatura hinter sich. Seit 1965 saß Gontscharik ununterbrochen auf verschiedenen Führungsposten der Kommunistischen Partei auf Bezirks- und Gebietsebene. Er war Abgeordneter des letzten weißrussischen Parlaments sowjetischer Provenienz, dann, nach der Unabhängigkeit 1991, der ersten und zweiten demokratisch gewählten Volksvertretung.

Parallel dazu feilte er an seiner Gewerkschafterkarriere und übernahm bereits 1986 den Vorsitz des staatlichen weißrussischen Gewerkschaftbundes. Hervorgetan im Kampf um die Rechte der Arbeiter hat sich Gontscharik nie. Die Konfrontation mit der Staatsmacht überließ er lieber anderen, wie den nach der Unabhängigkeit gegründeten freien Gewerkschaften. Riefen diese zu Protesten auf, hielt er sich lieber vornehm zurück.

Nicht zuletzt wegen dieses Verhaltens und Seilschaften aus vergangenen Tagen erfreut sich Gontscharik besonders guter Beziehungen zu Teilen der Machtelite, wie dem amtierenden Regierungschef Wladimir Jermoschin. Diese Nähe könnte seine Chancen bei all denjenigen mindern, die zwar gegen Lukaschenko sind, aber in Gontscharik auch keine wirkliche Alternative zum jetzigen Präsidenten sehen. „Gontscharik ist kein Mann der Opposition und kein Reformer. Er steht lediglich für einen konservativen Weg ohne Lukaschenko“, sagt eine weißrussische Journalistin.

Noch könnte Lukaschenko seinem Widersacher aber in die Quere kommen. So hat der Präsident jetzt aus Ärger über Gontschariks Vorstoß eine Kommission einsetzen lassen, die das Finanzgebaren des Gewerkschaftschefs überprüfen soll.

BARBARA OERTEL