Gerangel um den Untergrund

Der Premier will die Londoner U-Bahn privatisieren, der Bürgermeister ist dagegen. Jetzt entscheiden Richter, wem das marode Verkehrssystem gehört

von RALF SOTSCHECK

Es war das Thema, mit dem Ken Livingstone im vorigen Jahr die Londoner Bürgermeisterwahl gewann. Der abtrünnige Labour-Politiker versprach, das U-Bahn-System der britischen Hauptstadt zu sanieren – und damit eine zehnjährige Vernachlässigung zu beenden, die eine Fahrt mit der „Tube“ längst zum Abenteuer gemacht hat. Immer wieder fallen Züge aus, ganze Streckenabschnitte werden geschlossen. Manchmal bleibt ein Zug unterwegs einfach stehen. Anfang des Monats saßen 4.000 Passagiere anderthalb Stunden lang fest, weil vier Züge während des morgendlichen Berufsverkehrs strandeten. Die Temperatur in den Waggons stieg auf 38 Grad. Mehr als 600 Passagiere mussten wegen Atemproblemen behandelt werden, zwei von ihen kamen sogar ins Krankenhaus.

Diese „Kultur der Verachtung“ gegenüber den Fahrgästen wollte Livingstone aufbrechen. Doch sein Rivale, Premierminister Tony Blair, machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Der Regierungschef hat die U-Bahn der Hauptstadt zur Privatisierung ausgeschrieben, obwohl der Bürgermeister eine Sanierung in staatlicher Regie plante. Jetzt zog Livingstone vor Gericht. Seit gestern muss ein Londoner Gericht klären, wem die U-Bahn gehört – der Regierung oder dem Bürgermeister.

Gleich nach seinem Amtsantritt holte Labour-Rebell Livingstone den Amerikaner Robert Kiley ins Rathaus, um das U-Bahn-Netz zu retten. Das hatte Kiley zuvor in New York innerhalb von sieben Jahren geschafft. Dort ging der frühere CIA-Agent, der als Auslandsspion in 87 Ländern eingesetzt war, auf Konfrontationskurs mit den Gewerkschaften. Außerdem praktiziert er „null Toleranz“ gegenüber Schwarzfahrern und Graffiti-Malern.

Livingstone machte Kiley im Oktober vorigen Jahres zum Chef von „Transport for London“ – einem Amt, das dem Bürgermeister untersteht. Sieben Monate später, mitten im Unterhauswahlkampf, ernannte Premierminister Blair den Amerikaner obendrein zum Vorsitzenden von „London Transport“ – der Verkehrsbehörde, bei der die Regierung das Sagen hat. Als Regierungsangestellter war Kiley zu Wohlverhalten verpflichtet, die Regierung konnte das Reizthema U-Bahn aus der Kampagne heraushalten.

Vor knapp zwei Wochen wurde Kiley von seinem Posten bei „London Transport“ wieder gefeuert. Offizielle Begründung: Er habe sein Amt missbraucht, um die Privatisierungsverhandlungen zu hintertreiben. Doch Kileys Entlassung erfolgte genau einen Tag, bevor er zwei unabhängige Berichte vorlegen wollte. Der eine untersuchte die Sicherheitsaspekte der Teilprivatisierung, der andere beschäftigte sich mit den finanziellen Folgen. Beide Berichte ließen kein gutes Haar an den Regierungsplänen. Details sind nicht bekannt: „London Transport“ ließ dem Manager gleich nach seinem Hinauswurf per einstweiliger Verfügung untersagen, den Wortlaut der Berichte zu veröffentlichen.

Gestern legte Kiley dem Gericht die Passagen vor, die er bekannt machen will. Dabei geht es vor allem um den Nachweis, dass die Teilprivatisierung ein schlechtes Geschäft für den Steuerzahler ist. „Der Bericht enthält wichtige Informationen, die für die Öffentlichkeit von größtem Interesse sind“, sagt Livingstone. „Die Regierung hat immer wieder betont, dass sie ihren Plan zurückzieht, wenn er nicht für ein sicheres und preiswertes U-Bahn-System sorgt.“

Nach den Regierungsplänen soll die „Tube“ nach 30 Jahren wieder in öffentliches Eigentum übergehen. Für die Zwischenzeit, so Livingstones Rechnung, kalkulieren die Privatfirmen mit einer jährlichen Rendite von zwölf Prozent. Der Bürgermeister will die Sanierung dagegen mit Staatsanleihen finanzieren, für die derzeit viereinhalb Prozent Zinsen fällig sind. „Kein Hausbesitzer würde eine Hypothek mit zwölf Prozent Zinsen aufnehmen“, argumentiert Livingstone, „wenn er sie für weniger als die Hälfte bekommen kann.“

Mit seinem Widerstand gegen die Privatisierungspläne wird Livingstone erneut zum Albtraum für Blair. Der Bürgermeister ist das wandelnde Symbol für die schmerzhafteste Niederlage, die der Premier seit seinem Amtsantritt im Mai 1997 einstecken musste. Der „rote Ken“ vom linken Labour-Flügel hatte sich für die Nominierung bei den Bürgermeistermeisterwahlen beworben. Er scheiterte an Wahlmanipulationen, die auf Blairs Initiative zurückgingen. Livingstone entschied sich, ohne Nominierung anzutreten. Prompt wurde er aus der Partei ausgeschlossen – und gewann die Wahl haushoch gegen den offiziellen Labour-Kandidaten.

Das hatte er nicht zuletzt dem Thema zu verdanken, das die Londoner erregt wie kaum ein anderes. Eine Gruppe empörter Passagiere hat eine Website mit dem Namen „Tubehell“ eingerichtet, auf Deutsch: „U-Bahn-Hölle“. Dort berichtete ein Passagier der Northern Line am Wochenende: „Nachdem ich drei Stunden in der U-Bahn feststeckte und die Leute neben mir reihenweise in Ohnmacht fielen, werde ich mein Rad benutzen, bis mich jemand davon überzeugt, dass die U-Bahn sicher ist.“ Und ein gewisser Jonah schrieb: „Wir standen im Tunnel zwischen Oxford Circus und Warren Street, als der Fahrer verkündete, dass ihm die Verspätung Leid täte. Irgendein Idiot sei am Euston-Bahnhof in den Tunnel gelaufen, aber normalerweise kämen solche Leute auch schnell wieder heraus – gewöhnlich in Stücken.“