auf augenhöhe
: RICHARD ROTHER über Berliner an der Ostsee

Auf ein Bier in die Bretterbude

Der Spielautomat macht alle paar Minuten mit lautem Getöse auf sich aufmerksam, aus den billigen Lautsprechern scheppert eintönige Musik, auf der Theke schwimmt eine Kippe in einer Bierlache – eine typische Berliner Kneipenszene. Nur der Fußboden ist aus ungewöhnlichem Material: Sand, Ostseesand. Die Kneipe – das ist eine namenlose Bretterbude auf einem Campingplatz an der Ostsee, der kalten Badewanne der Berliner. Hier treffen sich die, die sich sonst konsequent aus dem Weg gehen. „Ich kenne das Leben, ich bin im Kino gewesen“, sangen die Fehlfarben in den Achtzigern. Mit „Kneipe“ funktioniert das immer.

Berliner sind reiselustige Großstädter. Manche aber nicht ganz freiwillig. Erkan zum Beispiel. Er ist hauptberuflich Schlachter in Grimmen, einem elenden Nest in Vorpommern, und nebenberuflich Kneipier an der Ostsee. Neben der Bretterbude gehört ihm noch ein Imbiss an der Strandpromenade. Hier ist der Fünf-Mark-Döner so schlecht, dass Erkan ihn in Kreuzberg nicht für 1,49 verkauft kriegte – Mark versteht sich, nicht Euro.

In Berlin hat Erkan, ein stämmiger Mittzwanziger mit Goldkettchen, keinen Job mehr bekommen; deshalb dreht er jetzt – wenn er nicht gerade Urlaub hat und in seiner Bierbude aushilft – Hühnern den Hals um. Täglich rund 3.000 Stück. Aber das sind nur die übrig gebliebenen. Die automatische Fließband-Schlachtung tötet nicht alle der mehr als 100.000 Federviecher auf Anhieb. Chicken Run in Ostdeutschland.

Erkan dreht die eintönige Techno-Musik etwas lauter. „Das ist ein Gequietsch und Geschrei in der Fabrik, man hält das kaum aus.“ So wie Grimmen. Erkan ist einer der wenigen Ausländer in der Kleinstadt, wird mindestens einmal pro Woche „angemacht“, wie er sagt. Von jungen wie von alten Grimmenern. Dabei sei der Fabrikant doch auch Ausländer, ein Franzose, und ohne den gäb’s in Grimmen 250 Jobs weniger. Einmal hat Erkan seine Berliner Freunde und Verwandten gerufen – 200 Türken in der ostdeutschen Provinz. „Die hatten richtig Angst, die Glatzen.“ Erkan kommt in Fahrt, wechselt die CD, legt deutschen HipHop ein: „. . . das ist die Fangfrage, warum sind Faschos auf der Straße so ’ne Landplage?“

Daniel versteht das auch nicht. Der gepiercte Westberliner mit den blond gefärbten Haaren hat an der Ostsee eine unschöne Begegnung am Strand gehabt; die Beule an der Stirn sieht man sogar im faden Kneipenlicht. Seit einem halben Jahr zieht der gelernte Kellner durch die Lande. „Schnauze voll von Großstadt.“ Wie von seiner Freundin. Die Kreuzberger Türkin hat er verlassen, als sie schwanger wurde. Mit ihr und ihrer Familie sei das plötzlich so kompliziert geworden. Manchmal bedauert er das. Weil er seine Tochter nie sehen wird, und weil seine Freundin „extrem geil aussieht und super im Bett ist“. Jeden Morgen sei es „echt abgegangen – die Muschi wollte das.“ Daniels Augen glänzen. „Ich vögel gern.“

Im Moment versteht sich Daniel mit der Bedienung Bea sehr gut. Bea ist zwar keine orientalische Schönheit, aber sie ist sehr lieb. Schon nach dem ersten Bier spricht die Schöneberger Psychologie-Studentin jeden Kunden mit dem Vornamen an, erkundigt sich nach diesem und jenem. Das steigert den Umsatz. Bea ist daran beteiligt, fest bekommt sie am Abend nur 50 Mark.

Auch Erkan ist sehr um seine Kunden bemüht, bietet ihnen schon mal eine Zigarette an. „Was hören wir jetzt, Jungs?“, fragt er die Gruppe Kurzhaariger aus dem Ostberliner Vorortbezirk Hellersdorf. Die Jugendlichen wollen keine „Niggermusik“, bestellen aber noch ein paar Bier. Ausländer sind für sie Dealer, Kreuzberg ist „No-go-Area“. Erkan legt amerikanischen Mainstream-Schleimi-Rock auf, versucht dann zu differenzieren. Asylanten mag er auch nicht, aber er zahle doch Steuern. Der größte Traum des fleißigen Unter- und Arbeitnehmers ist es, an der Ostsee eine Großdisko zu eröffnen. Das macht nicht nur 3.000 Mark Umsatz am Abend, sondern auch 100 Punkte bei der Einwanderungsbehörde. Die würden die Grünen verschämt „Bundesamt für Integration, Chancengleichheit und Antidiskriminierung“ oder so ähnlich nennen wollen.

Peter lässt sich von dem Süssmuth’schen Vorzeige-Einwanderer wenig beeindrucken. Roman Herzog sei „der größte Verbrecher“ gewesen, habe Deutschland der „Ausländermafia“ und den „Langnasen“ überlassen.

Kriminalexperte Peter hat viel Lübzer Pils getrunken, aber er weiß, wovon er redet: der grauhaarige Mann ist pensionierter Polizeibeamter aus dem gutbürgerlichen Westberliner Bezirk Wilmersdorf. Nun fürchtet er sich vor den „Roten im Roten Rathaus“. An die Jungs aus dem Plattenbau gewandt: „Ihr wisst jar nisch, wat ick mit die Chaoten und die Rauschgiftdealer mitjemacht habe.“ Die Hellersdorfer nicken beifällig.

Erkan wechselt vorsichtshalber die Musik, dreht die Puhdys auf volle Lautstärke. Hartmut aus Prenzlauer Berg summt zunächst mit, versucht dann aber abzulenken. „Kennt ihr den Unterschied zwischen Arm und Reich?“, fragt der langhaarige Bibliothekar, zu dessen Urlaubslektüre offenbar Frédéric Beigbeders neuer Roman „39,90“ gehört. „Die Armen verkaufen Drogen, um sich Nikes zu kaufen; und die Reichen verkaufen Nikes, um sich Drogen zu kaufen.“

Einer der Helldersdorfer runzelt die Stirn, trommelt mit der Faust auf die Theke. „Schluss mit Stuss jetze!“ Hartmut setzt noch ein Zitat drauf: „Die Welt ist irreal, außer wenn sie zum Kotzen ist.“ Dann gerät die Kneipe in Aufregung, weil der Spielautomat ein Geldstück nach dem anderen ausspuckt und eine Hellersdorferin kräftig einsackt. Glück muss man haben.