So einer wie Huub

In wenigen Tagen beginnt die neue Bundesligasaison, der Nicht-Bayernfan leidet jedoch noch am Trauma des Endes der alten. Ein Erfahrungsbericht

von SEEP JAKOBS

Der Moment, als er vorm Absprung erstarrt war, kehrte wieder und wieder. Den Impuls, ans Radio zu fliegen und es schnellstmöglich auszuschalten, hatte er wirklich gespürt. Das verstand er nicht als Hokuspokus. Beim Skat hielt er sich auch an das, was ihm als Erstes einfiel, sobald er sein Blatt sah. Wich er davon ab, ging es meist schief. Er glaubte nicht daran, dass er ein Gegentor dadurch verhindern konnte. Aber es gab seine Erfahrung: Mehr als einmal war es nicht gut gegangen, wenn er das Spiel im Radio hatte weiterlaufen lassen. Wieso er, während er das Warnsignal deutlich empfing, ins Stocken geraten war, konnte er sich nicht erklären. Vielleicht wusste er auf die Schnelle einfach nicht, wohin mit dem verdammten Besen.

Vielleicht wollte er sich ein paar Sekunden zu lange von der Reporterstimme einreden lassen, dass ihm dieses Wunder, kaum dass es eingetreten war, unmöglich schon wieder weggenommen werden konnte. Ein Revolverheld hätte vielleicht noch rechtzeitig ins Radio schießen und die Unglücksstimme abknallen können. Er aber war in der Absprungbewegung stecken geblieben, erstarrt in einer lächerlichen Schritthaltung mit dem wirkungslosesten Ding in der Hand, das man sich vorstellen konnte – einem Besen. Erst eine Weile, nachdem er Ohrenzeuge geworden war, konnte er sich wieder bewegen. Er warf den Besen über das Terrassengeländer hinunter in den Garten; nicht kraftvoll, nicht aggressiv wie ein ungebrochener Kämpfer, nein, resigniert und angeödet, als beweise der Besen, wie verpfuscht alles war.

Gott und Konjunktiv

Danach wurde viel von Gott geredet, vom Fußballgott, im Radio, im Fernsehen, in der Zeitung. Und außerdem schlug die Stunde des Konjunktivs. Gott und der Konjunktiv, dachte er, das sind zwei Notausgänge für Verlierer. Nach Mitternacht sah er sich das krepierte Wunder im Fernsehen an, in der Wiederholung des „Sportstudios“ auf 3Sat. Er hörte einen Bayern-Funktionär diese Phrase aussprechen: Kein Regisseur hätte das Saisonfinale spannender inszenieren können. Da fiel ihm das Wort ein, das er sofort passend für den Ausgang dieser Spielzeit fand: abgeschmackt. Das war ein Wort, das er zuvor sehr selten gebraucht hatte. Aber es stellte sich sogleich in seinem Hirn ein, als er den Bayern-Funktionär reden hörte. Dummschwätzer, kein Regisseur hätte dieses Finale abgeschmackter inszenieren können, dachte er. Laut widersprach er dem Fernseher, sagte „abgeschmackt“, sagte mehrfach verächtlich: „abgeschmackt“. Was für eine schäbige Regie, dachte er, Serienmachwerk, dachte er. Was hat er denn abgeliefert, der tolle Regisseur? Eine Auftragsarbeit für Dauerbegünstigte. Er darf nur eins: immer wieder das Happyend für die einen, die Bayern, herbeimurksen. Und da faseln die von Spannung. Na gut, dreieinhalb Minuten lang hat er mal was anderes probiert, hat er uns die Bayern als Verlierer vorgeführt, gezeigt, wie schlecht sie das können. Danach durften sie ihre Triumphroutine ganz schnell wieder auspacken. Und als sie im Fernsehen „We are the champions“ gröhlten, diese abgeschmackteste Triumphhymne, die auf Tonträger zu finden ist, fühlte er einen Augenblick sogar Erleichterung darüber, dass ihm das mit Schalke erspart geblieben war. Aber das dauerte wirklich nur einen Augenblick.

Am nächsten Morgen sprach er mit Jutta darüber. Sie interessierte sich nicht für Fußball. Aber mit Schicksalsgeschlagenen und Unglücksbeladenen konnte sie wunderbar umgehen. „Das war“, sagte er beim Frühstück, „so schlimm, als könntest du den Betrieb auf der Autobahn von oben beobachten. Du siehst, da steigt einer auf der Raststätte in sein Auto und fährt los. Und auf der Gegenspur bricht kurz darauf ein Laster durch die Mittelleitplanke und zerquetscht ihn. Und dir wird klar, wenn der sich ein bisschen mehr Zeit gelassen hätte beim Pinkeln oder eine Tasse Kaffee weniger getrunken, dann hätte es ihn nicht erwischt, sondern einen anderen oder vielleicht auch gar keinen . . .“ Vielleicht, antwortete sie, sei der Fußball deshalb so beliebt. „Wie?“, fragte er begriffsstutzig. Ja, wenn sie wählen müsse, Glück und Unglück auf einer Autobahn oder im Stadion zu erleben, wäre ihr auch der Fußballplatz lieber, erklärte sie. Er schloss sie in die Arme und sagte, viel wichtiger als die vergurkte Meisterschaft sei, dass es sie gebe.

Am Montag rief ihn Freund Erwin im Büro an, um ihm sein Beileid auszusprechen. Dem bellte er schon in der ersten Antwort sein neues Lieblingswort zu, fasste alles zusammen in einem grimmigen „Abgeschmackt“. Doch Erwin widersprach. Das Finale sei ja derart spannend gewesen, spannender als jeder letzte Spieltag zuvor. Warum er daraufhin anfing zu lügen, wusste er auch nicht. Lag es daran, dass er eher vertragen konnte, als Verlierer da zu stehen, denn als einer, der Illusionen hat? Jedenfalls wollte er Erwin weismachen, er selbst sei ja schon zuvor mit der Spielzeit fertig gewesen.

„Pfeif das Ding ab!“

„Was war denn daran spannend? Überhaupt nichts“, behauptete er. „Ich zieh mit dem Besen über die Terrasse und hab das Transistorradio auf dem Geländer stehen. Der Reporter in Hamburg ist fast eingeschlafen, der gähnte ja fast ins Mikrophon, und du kannst mir glauben, ich hab auch nur noch mit einem Ohr hingehört. Aber plötzlich brüllt der ‚Tor, Tor! Barbarez, Tor für Hamburg in der 90. Minute!‘ und dann x-mal ‚Schalke 04 ist Deutscher Meister . . . wenn es dabei bleibt, wenn es dabei bleibt. Liebe Hörerinnen und Hörer: In Gelsenkirchen ist Schluss, und wenn es bei diesem Spielstand in Hamburg bleibt, ist Schalke 04 Deutscher Fußballmeister‘ . . . usw. So froh ich war: Je öfter der sein ewiges ‚Wenn es dabei bleibt‘ ins Mikro flüsterte, umso elender hab ich mich gefühlt. Pfeif das Ding ab, hab ich gedacht, lieber Gott, pfeif endlich das verdammte Ding ab! Und dann hab ich mir gesagt, jetzt wird hier nicht in Panik gemacht, jetzt wird hier gar nicht mehr hingehört, sondern in Ruhe die Terrasse fertig gekehrt. Wenn in Hamburg Schluss ist, kriegst du das schon früh genug mit, und dann reitest du auf dem Besen rein zu deiner Jutta, hebst sie hoch und wirfst sie Richtung Decke. Aber ich konnte es nicht ändern, ich hatte so ein beschissenes Gefühl bei der Sache. Der Schlusspfiff kam und kam nicht. Man hatte den Eindruck, der Ball läuft überhaupt nicht mehr, und der Korinthenkacker lässt das alles zusätzlich nachspielen. Ja, und dann verkündet der: ‚Freistoß für Bayern, Freistoß aus acht Metern!‘ Und sagt auch noch: ‚Diese eine Szene muss der HSV noch überstehen, dann ist Schalke 04 Deutscher Fußballmeister‘. Das sagt dieser Unglücksrabe zwei-, dreimal, und da hatte ich das beschissenste Gefühl, das du dir vorstellen kannst, und nur noch eins im Kopf: hinspringen und augenblicklich das Radio aus! Aber während ich noch zucke, brüllt der ‚Tor, Tor, Tor in der 94. Minute für Bayern München!‘ Tja, dann kam die nächste Das-gibt’s-doch-nicht-Litanei, und ich hab den Besen gefressen.“

Erwin hörte sich das alles an, ohne ihn zu unterbrechen. Dann sagte er etwas, das ihm wirklich gut tat. Er sagte: „Die Bayern-Fans sind die allerärmsten Würstchen!“ „Was?“ „Überleg doch mal: Wer es nötig hat, einen Club als Lieblingsmannschaft zu haben, der den Titel in Serie holt, was muss das für eine arme Wurst sein?“ „Das kann man wohl sagen. Eine ganz arme Wurst, die sich vor jedem Risiko die Hose bepisst.“ „Wie die, die beim Skat nur das Spiel machen, wenn sie vorher drei Gutachten eingeholt haben, dass es nicht zu verlieren ist.“ „Richtig, Erwin, genau wie die!“

„Meister der Herzen“ stand am Montag in der Zeitung. Er zeigte Jutta die Überschrift, als er von der Arbeit kam. „Siehst du, du hast den richtigen Lieblingsclub. Beim Meister der Herzen bist du besser aufgehoben“, antwortete sie und fuhr ihm durchs Haar. Das tat ihm gut, so gut wie das, was sie ihm in der Nacht zum Sonntag ins Ohr geflüstert hatte, als er nach dem Ende des „Sportstudios“ betrunken ins Bett gekrochen war. Er hatte sich den Abend über nichts anmerken lassen, auch im Bett lamentierte er nicht, gab keinen Laut von sich, der etwas verraten hätte. Aber sie spürte sogar im Halbschlaf, wie ihm zumute war. Sie drehte sich zu ihm, zog ihn in ihre Arme und murmelte: „Sei nicht zu traurig.“ Und während sie sein Gesicht streichelte, betupfte sie seine Seele mit sanften Sätzen. Einer hieß, Gewinner könne sie gar nicht liebhaben.

Maßlos traurig und klug

In dem Moment fühlte er sich wie . . . Huub Stevens. Er kam sich tatsächlich vor, als sei er der Trainer von Schalke 04, der nach dem letzten Spieltag mit diesen Erlebnissen zu seiner Frau heimgekehrt war. Mehr als jede andere Szene hatte ihn das Bild des mit bebenden Lippen kämpfenden Huub Stevens berührt, der im Parkstadion stand, während 60.000 Fans seiner Mannschaft und ihm ein Lied des Beistands sangen. Er versuchte mitzusingen, er versuchte, sich in der Reihe seiner Spieler zu wiegen, und währenddessen rang er mit den Tränen. Maßlos traurig sah er dabei aus und klug, so lebensklug. Als wisse er in diesem Moment genau, dass es nur gut für den Fußball sein konnte, wenn dieses Drama die bestmögliche Besetzung hatte. Als wisse er genau, dass dieses geliebte Spiel die Unglücklichen brauchte. Als wisse er genau, dass ohne die grausame Rolle des knappstmöglichen Verlierers ein derart bewegendes Finale nicht möglich war. Als wisse er genau, dass gerade er dieser Rolle gewachsen war, also der richtige Mann, sie zu übernehmen. Und als gehe es an die äußerste Grenze seiner Kräfte, das zu wissen und jetzt auf sich nehmen zu müssen. Huub Stevens, durchströmte ihn vorm Einschlafen, war einer wie er.