Wissenschaftlerin verurteilt

Ein Pekinger Gericht verurteilt eine chinesische Soziologin mit US-amerikanischem Pass kurzerhand zu zehn Jahren Gefängnis. Ihr angebliches Vergehen: „Spionage für Taiwan“

PEKING taz ■ Nach einem Kurzprozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit ist die chinesische Soziologin Gao Zhan gestern in Peking zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt worden. Nach Angaben ihres Anwalts lautete die Anklage auf „Spionage für Taiwan“. Mit dem scharfen Urteil gegen die 39-jährige Gao, die an der American University in Washington arbeitete und seit Jahren in den USA lebte, will Peking offenbar ein Warnsignal an chinesische Wissenschaftler setzen, die eng mit dem Ausland zusammenarbeiten. In China sind mehrere Wissenschaftler inhaftiert.

Gao Zhan war im Februar mit ihrem chinesischen Ehemann und dem fünfjährigen Sohn, der amerikanischer Staatsbürger ist, nach einem Besuch bei der Ausreise am Pekinger Flughafen festgenommen worden. Seitdem saß sie ohne Kontakt zu ihrer Familie und ihrem Anwalt in Haft. Laut einer Hongkonger Menschenrechtsorganisation wurden ihre Verteidiger erst nach fünf Monaten vorgelassen. Gaos Kind und ihr Mann waren in den ersten zwanzig Tagen nach der Verhaftung getrennt festgehalten worden, durften dann aber in die USA ausreisen. Die Behörden hatten das US-Konsulat nicht über das Schicksal des Kindes informiert und damit gegen internationales Recht verstoßen.

Nach Auskunft des amerikanischen Anwalts Jerome Cohen warf Peking der Soziologin vor, Fotokopien aus Büchern und Zeitschriftenartikel über das chinesisch-taiwanesische Verhältnis an andere Kollegen weitergegeben zu haben. Ein Teil der Artikel sei als „intern“ gekennzeichnet gewesen. Gao, die mehrere Berichte über Frauen in China und über Taiwan publiziert hat, habe die Vorwürfe nicht abgestritten: Die Weitergabe von Dokumenten gehöre zum wissenschaftlichen Austausch.

In China sind zahlreiche neu publizierte Bücher und Zeitschriften „intern“ gestempelt. Darunter fallen auch Statistiken und Fachzeitschriften von Hochschulen und Forschungsinstituten. Diese Materialien können oft problemlos an Bücherständen und in Geschäften gekauft werden. Wenn es den Sicherheitsbehörden gefällt, nehmen sie die Weitergabe solcher Dokumente zum Vorwand, Akademiker mundtot zu machen. Anwälte und Verwandte Gaos hoffen, dass die Soziologin in den nächsten Tagen ausgewiesen wird: US-Außenminister Colin Powell, der sich in den vergangenen Monaten für Gao eingesetzt hat, besucht am Wochenende Peking.

JUTTA LIETSCH