Manchmal siegt der Knast

Kein Stadttheater-Ensemble: In Santa Fu hat am Sonnabend George Taboris Die Kannibalen Premiere  ■ Von Michaela Soyer

Eigentlich sollte die Probe schon um neun Uhr losgehen. Gegen halb zehn entscheiden sich die Regisseure Ralf Siebelt und Winfried Tobias, mit den Aufwärmübungen zu beginnnen, auch wenn einer der Hauptdarsteller noch fehlt. Es ist nicht das erste derartige gemeinsame Theaterprojekt der beiden. In der JVA Salinenmoor in Celle inszenierten sie bereits Brechts Arturo Ui und Mann ist Mann. Auch Ma-ckinpott von Peter Weiss brachten sie dort auf die Bühne.

Sechs Stunden pro Tag wird in der Gefängnis-Kapelle von Santa Fu George Taboris Stück Die Kannibalen geprobt. In dem hellen Raum mit den bunten Glasfenstern und einem riesigen Graffiti an der Wand sieht es weder aus wie in einer Kapelle noch wie in einem Gefängnis. Aber durch die geöffneten Fenster ist ein Teil des Zauns zu erkennen. Und oben, bei der Orgel, werden die ersten Kostüme anprobiert.

Taboris Stück handelt von zwölf KZ-Häftlingen, die im größten Hunger darüber streiten, ob sie ihren toten Mitgefangenen verspeisen sollen. „Wir haben ein Stück ausgesucht, das etwas mit dem Gefängnis zu tun hat“, erklärt Tobias. Den Gefangenen sei natürlich klar, dass sie sich nicht in einem KZ befinden. Die Regisseure haben sich für Die Kannibalen entschieden, weil das Stück Fragen nach dem Umgang mit Gewalt aufwirft. Dieses Stück an diesem Ort aufzuführen, erinnert aber auch daran, dass Teile der Haftanstalt Fuhlsbüttel auch als Konzentrationslager genutzt wurden.

An diesem Morgen steht der ers-te Akt auf dem Probenplan. Bereits in der Auftaktszene beginnen die Diskussionen um Puffy. Denn der ist tot – und dazu noch schön fett und nahrhaft. Die Mehrheit der Häftlinge versucht, sich gegen Onkel (Joe Marx) durchzusetzen. Onkel ist die dominante Person der Barracke und versucht zu verhindern, dass Puffy aufgegessen anstatt begraben wird. „Ihr müsst eine bessere Körperspannung bekommen“, fordert Siebelt und verbietet den Schauspielern, mit hängenden Schultern auf der Heizung zu sitzen. „Immer wenn Joe spricht, ist er für euch die absolute Respektsperson, ihr müsst vor ihm zurückweichen“ erklärt Siebelt. Da Joe Marx noch nicht bei den Proben ist, schlüpft Tobias vorerst in seine Rolle. Bobby Laubinger ist als Zigeuner der erste, der den Führungsanspruch Onkels in Frage stellt. Er drängt sich kurz vor die anderen und schreit: „Halt den Mund!“, blickt sich erschrocken um und versteckt sich wieder hinter den anderen. Siebelt steht am Rand der Bühne, grinst und murmelt: „Ja, gut so“. Laubinger ist Sinti. Der 33-Jährige hat sich von Anfang an für die Rolle entschieden. „Meine Oma war damals in Auschwitz“, sagt er.

Nach ihm müssen auch die andern auf Onkel zugehen und ihn anschreien. Manche sind noch unsicher, sagen „Halt den Mund“, drehen sich um und schlendern in Richtung Bühnenrand. „Nein, so nicht“, unterbricht Siebelt, „ihr müsst langsam zurückweichen und dürft ihm nicht den Rücken zudrehen.“ In der Zwischenzeit ist Joe Marx eingetroffen und kann seine Rolle übernehmen. Dafür muss Laubinger die Proben verlassen.

Die Regisseure sind nicht erfreut darüber, dass ihre Schauspieler heute auch noch andere Verpflichtungen haben. „Bei den anderen Betrieben ist noch nicht richtig eingschlagen, dass wir auch auf die Leute angewiesen sind“, stellt Tobias fest, und Siebelt fügt hinzu: „Das Theater sollte genauso ernst genommen werden wie die Tischlerei oder Schlosserei.“ Trotzdem sind sie zufrieden mit ihrer Arbeit. „Es ist eine tolle Truppe, so ein Ensemble findet man an einem normalen Stadttheater nicht“, sagt Siebelt. Die Gefangenen hätten wirklich den Impuls, Theater spielen zu wollen. Und das gelingt den Laienschauspielern, ohne dabei gekünstelt oder übertrieben zu wirken.

Es geht Siebelt und Tobias darum, „Freiräume“ zu schaffen. Joe Marx sei nicht nur auf der Bühne, sondern auch tatsächlich im Gefängnis eine Res-pektperson. Das Rollenspiel gebe die Freiheit, Hierarchien in Frage zu stellen. „Aber manchmal“, sagt Tobias, „ist der Knast einfach stärker.“

Premiere: Sa, 19 Uhr, Haftanstalt Fuhlsbüttel (am Hasenberge 26). Die Karten müssen aus Sicherheitsgründen mindestens fünf Tage vorher gekauft werden (Kasse Thalia Theater) . Interessenten können dort Karten für die Vorstellungen am 2., 3, 4. Und 5.8. erwerben. Einlass spätestens 18.30 Uhr