Stille Trauer in Genua

Der Tod durch eine Polizeikugel hat den 23-jährigen Carlo Giuliani zum Helden der Globalisierungsgegner gemacht

aus Genua HEIKE HAARHOFF

Sie hatten nicht die Größe, ihm das letzte Geleit zu geben. Kein Vertreter der italienischen Regierung war zugegen, kein Repräsentant der Polizei fand Worte des Mitgefühls, als gestern in Genua Carlo Giuliani zu Grabe getragen wurde, den eine Polizeikugel tödlich verletzt hatte. Aber vielleicht war das auch besser so. „Carlo“, sagte einer seiner Freunde bei der Trauerfeier auf Genuas Zentralfriedhof Staglieno, „hatte eine große Wut in sich gegen die Ungerechtigkeit auf dieser Welt und gegen diejenigen, die sie repräsentieren“. So groß, dass er am Freitag vielleicht wirklich den Feuerlöscher in seinen Händen auf den Carabiniere im Polizeiauto geworfen hätte, wäre der ihm nicht mit einem Schuss in den Kopf des 23-jährigen Demonstranten zuvorgekommen. „Carlo Giuliani hätte keinen von ihnen hier sehen mögen“, sagte der Freund.

Und so versammelten sich gestern nur Familie und Freunde, um von Carlo Giuliani Abschied zu nehmen. Und natürlich auch viele derjenigen, die das erste Todesopfer der Anti-Globalisierungsbewegung – wie er jetzt offiziell heißt – nie persönlich gekannt hatten, aber für gemeinsame Ziele mit ihm auf die Straße gegangen waren. Knapp tausend Menschen waren gekommen, die meisten in Alltagskleidung, ohne Blumen und vor allem ohne Transparente und Sprechchöre. Darum hatte Carlo Giulianis Vater gebeten. Dass politische Gruppierungen, wie in den letzten Tagen bereits geschehen, seinen Sohn in ihrem Interesse zum Märtyrer machen, wollte er vermeiden. Als dann der Sarg, bedeckt mit roten Rosen und einer Fahne des italienischen Fußballmeisters AS Rom, aus dem Totenwagen herausgehoben wurde, applaudierte die Trauergemeinde trotzdem lange.

Dann hatte Carlo Giulianis Vater das Wort. „Wir wollen für eine bessere, eine gerechtere Welt eintreten, eine Welt, in der es weniger Gewalt gibt“, mahnte er, gefasst und mit sehr ruhiger Stimme, der Menge zugewandt. Sein Sohn habe für diese Werte gestanden. „Ich danke ihm dafür, denn ich habe viel von ihm gelernt, vor allem eins: Lasst uns Menschen niemals nach der Farbe ihres T-Shirts oder nach ihren Rastalocken beurteilen. Denn hinter dem T-Shirt, hinter den Rastalocken, was immer ihr davon halten mögt, steckt ein Mensch, der ein Herz hat und denkt.“

Es war das einzige Mal, dass der Vater in seiner Rede indirekt die Polizei kritisierte. Die war, nachdem ihr Beamter den tödlichen Schuss abgegeben hatte, wie um Verständnis heischend mit Carlo Giulianis Strafregister öffentlich hausieren gegangen: Besitz von Stichwaffen. Widerstand gegen die Staatsgewalt. Beamtenbeleidigung. Den Rest seines Lebenslaufs und Charakters ergänzten gestern Freunde und der Vater: Ein junger Mann sei Carlo Giuliani gewesen, ein Geschichtsstudent, kein politischer Vordenker, aber einer, der schon mit 15 Jahren gegen den Krieg in Jugoslawien demonstrierte und die Welt habe verbessern wollen. Wie so viele Menschen in seinem Alter, sagte der Vater. Deshalb werde er jetzt einen „Carlo-Giuliani-Fonds“ einrichten, der eben solche Projekte fördern will. „Wir müssen alle nachdenklicher werden“, appellierte der Vater unter Applaus. Kein Wort der Anklage, der Wut, der Rache. Stattdessen: „Großes Mitleid“ habe er mit dem Polizisten, der seinen Sohn getötet habe, stellte er bereits am Wochenende klar. 20 Jahre ist der Carabiniere alt, der den tödlichen Schuss auf Carlo Giuliani abfeuerte und sich nun wegen Totschlags verantworten muss. Ein sinnloser, ein nutzloser Akt der Gewalttätigkeit unter beinahe Gleichaltrigen – so sinnlos wie der Tod, der 1967 den bis dahin völlig unbekannten Benno Ohnesorg über Nacht zum Helden der Studentenbewegung machte oder 1976 den schwarzen Schüler Hector Petersen zur Ikone des Schüleraufstands in Soweto. Ebenso sinnlos wie die Verletzungen und Verhaftungen vom Wochenende. Über das Schicksal der Demonstranten in den Krankenhäusern oder Gefängnissen herrscht noch immer Unklarheit. Wer gestern bei der italienischen Polizei anrief, um Auskunft zu erhalten, wie genau die Vorwürfe gegen die 250 Inhaftierten lauteten, dem wurde der Hörer aufgeknallt. Anwälte versuchten unterdessen, Kontakt zu den Gefangenen aufzunehmen. Auch die kommunistische Parlamentsabgeordnete Graziella Mascia und der eigens angereiste bündnisgrüne Bundestagsabgeordnete Christian Ströbele taten gestern alles, Zugangsgenehmigungen zu Krankenhäusern und Gefängnissen zu erhalten.

Die Forderung der beiden Parlamentarier, eine internationale Kommission solle die polizeilichen Übergriffe in Genua untersuchen, wurde auf der Trauerfeier begrüßt. „Er“, sagte einer der Freunde, „hätte das auch gut gefunden.“ Und dann: „Ciao, Carlo.“