Der Ball ist irrational

Weil sich der Fußball den Systemen entzieht und seinem Wesen nach zufallsorientiert ist, leiden nicht nur die Fans, sondern auch Theoretiker und Vereinsmanager. Eine Betrachtung zum Saisonauftakt

von THILO KNOTT

Ein Spiel dauert 90 Minuten. Der Ball ist rund. Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Das Runde muss ins Eckige. Fußballweisheiten sind profan. Und wie bei allen Weisheiten liegt deren eigentliche Fragwürdigkeit darin, dass die einfachen Wahrheiten meist keine Hilfe bieten, weil die Situationen, in der sie Anwendung finden könnten, von größter Komplexität sind. Wie zum Beweis werden Weisheiten in den meisten Fällen immer erst nach dem Sündenfall ausgesprochen. Wenn man die Vielfalt der Ereignisse schon nicht auf die Einfalt eines Begriffs bringt, reduziert man sie wenigstens auf ein offensichtlich notwendiges Moment trivialer Vergewisserung.

Intellektuelle haben sich dem König Fußball lange Zeit verschlossen. Wegen der Idiotie, versteht sich. Es hieß immer: ist doch eine lächerliche Tätigkeit, einen Ball ins Tor zu schießen, die zudem noch das Leben von Millionen Menschen bestimmt – nein, Fußball kann doch nicht im Ernst unser Leben sein. Bei Fußball hatten Intellektuelle immer den Bratwurstgeruch in der Nase und den Geschmack von lauwarmem Bier im Mund. Die Hochkultur feierte ihr Unbehagen an der Fußballkultur.

Es gab freilich Ausnahmen. Peter Handke zum Beispiel mit seinem Gedicht „Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27. 1. 1968“. Oder Ror Wolfs Textsammlung „Punkt für Punkt“, in dem ein ganz anderer Prosasinn aus Originalzitaten von Sportreportern montiert wird. Es ist, sowohl bei Handke als auch Wolf, das Plakative, die „dichte Beschreibung“ (Clifford Gertz) des Fußballs. Es ist nicht der Versuch vollkommen geistiger Durchdringung des Phänomens. Wahrscheinlich ist das der Grund, warum Fußball für Intellektuelle lange Zeit kein Thema war, warum die angebliche nur eine vorgebliche Idiotie war: Fußball entzieht sich schlicht der geistigen Ballbeherrschung, er funktioniert nicht nach Vernunftkriterien, sein Prinzip ist der Zufall.

Mittlerweile ist die Beschäftigung mit Fußball mehr verankert im intellektuellen Diskurs. An den Universitäten werden Seminare zumThema Fußball angeboten, wissenschaftliche Tagungen beschäftigen sich damit. Vor allem weil sich der Geist der bloßen „Freude an der Dinglichkeit“, wie das der Berliner Sportsoziologe und -philosoph Gunter Gebauer nennt, hingibt.

Gebauer erklärt: „Der Ball verweigert sich der Sprache.“ Das meint nicht, dass es im Fußball selbst keine Sprache gibt. Natürlich gibt es Kommunikation auf dem Fußballplatz. Schon allein, weil es Mitspieler und Gegner gibt. Es gibt die Vereinbarungen innerhalb des eigenen Teams, das Anlügen der gegnerischen Mannschaft. Ja, es gibt sogar Geheimsprachen. Wenn etwa der Torhüter seinen Mitspieler „Leo!“ anbrüllt, weil er „Weg!“ oder „Hab’ ich!“ gemäß den Regeln nicht sagen darf.

Mit der Verweigerung des Sprachlichen, mit der Betonung des Vorsprachlichen des reinen Spiels ist etwas anderes gemeint: Fußball lässt sich nicht in sprachliche Systeme ordnen. Begriffe dienen ja dazu, einem Phänomen Herr zu werden, es zu kategorisieren. Fußball aber entzieht sich gerade wegen seiner Zufälligkeit den geistigen Schubladen. „Der Ball spielte nicht mit, er sang nicht, er ließ sich nicht streicheln, er war nicht Kamerad und Freund, sondern ein Fremder“, sagte der Kaiserslauterer Fußballpoet Fritz Walter einmal nach einer Niederlage. Fußball ist also sicherlich Sprache, die den Sozialraum Fußballplatz zu strukturieren versucht – allerdings ist diese Sprache kontingent. Es gibt kein logisches Fundament, auf das sich Fußball stellen ließe. „Kontingenz“ im Sinne des amerikanischen Philosophen Richard Rorty bezeichnet Zufälligkeiten, die eintreten, die „aber auch genauso hätten anders sein können“.

Das zeigen allein die möglichen Verstrickungsketten am letzten Spieltag der vergangenen Saison, in den wenigen Sekunden, die die Meisterschaft zu Gunsten des FC Bayern München entschieden: Wenn der Hamburger Ujfalusi nicht den Ball in Richtung eigenes Tor gespitzelt hätte; wenn Torsteher Schober ihn nicht aufgenommen hätte; wenn Andersson den Ball nicht genau so getroffen hätte.

Und der Witz an der Kontingenz des Fußballs ist, dass es auch in dieser Saison wieder so kommen kann. Diesmal vielleicht gegen Bayern München und für Schalke 04. Oder auch nicht. Jedenfalls hätte alles auch ganz anders sein können.

Das Kontingente ist das Subversive des Fußballs. Im Fußball spielt immer die „Skepsis gegen Metaerzählungen“ (Jean-Francois Lyotard) mit – etwa gegen den Geist der Moderne, gegen die Idee vom Sieg der Rationalität über das Irrationale, das Vernünftige über das Unvernünftige. Im Fußball spiegelt sich nicht die Suche nach der besten und wenn möglich finalen Ordnung wider, sondern vielmehr die Sehnsucht nach der Freiheit von Systemen.

Im Fußball muss immer das Irrationale, Unvernünftige mitgedacht und gewissermaßen ausgehalten werden. Die Flucht in und der Fluch auf den oft zitierten Fußballgott ist nur scheinbar, ist eine nicht ernst gemeinte Floskel. Denn niemand glaubt an ihn. Auch die Rede von der „ausgleichenden Gerechtigkeit“ erübrigt sich mit dem Anpfiff des nächsten Spiels – es gibt keine Kriterien des Ausgleichs, weil sich Gerechtigkeit immer wieder von neuem bewerten lassen müsste.

Das Irrationale auszuhalten, ist natürlich schwierig, weil das Funktionsprinzip der Wertsphäre Sport die Unterscheidung von Sieg und Niederlage ist. Also liegt es auf der Hand, den Sport und im Idealfall selbstredend den Sieg planbar zu machen. Im Fußball gibt es zwei Versuche, den Fußball zu rationalisieren: Die eine Strategie setzt am Inneren des Spiels selbst an, die andere Strategie versucht das Innere von außen zu kolonialisieren.

Seit der Europameisterschaft 1996 in England wird der Begriff „System“ geradezu inflationär benutzt. Niklas Luhmann begreift „System“ als „jeden sozialen Kontakt (. . .) bis hin zur Gesellschaft als Gesamtheit der Berücksichtigung aller möglichen Kontakte“. Übertragen auf den Fußball könnte man sagen: Die „Systematisierung“ des Spiels würde bedeuten, über 90 Minuten die größte Effizienz von Laufwegen und Passspiel zu erreichen. Doch gerade anhand der EM in England, genauer gesagt an Frankreich, dem ersten großen Fußball-System-Theoretiker, kann man veranschaulichen, dass bloße „Systematisierung“ nicht zum Erfolg führt: Die Franzosen scheiterten an der starren Einhaltung des wie am Reißbrett entworfenen „Systems“. Sie zogen ihre Konsequenzen und wurden 1998 Weltmeister und 2000 Europameister: Der beste Fußball entsteht im Wechselspiel zwischen Individualität und Spontanität einerseits und einem möglichst hohen Organisationsgrad der Gemeinschaft andererseits.

„Erfolg im Sport ist planbar“, hat der beim VfB Stuttgart gescheiterte Trainer Ralf Rangnick einmal gesagt, aber hinzugefügt: „Wenn unter der Woche wenig Fehler passieren, dann haben wir ein hohes Maß an Erfolgswahrscheinlichkeit.“ Das ist das Stichwort: Erfolgswahrscheinlichkeit ist Erlösungswahrscheinlichkeit im Sinne von Max Webers „Protestantischer Ethik“ – die Sehnsucht nach Zeichen des Fußball-Gottes, ob er einen aufnimmt in den Fußball-Himmel.

Der zweite Versuch, den Fußball planbar zu machen, ist die Kommerzialisierung durch Vereine, die längst Unternehmen sind. Dieser Versuch, den Ball zu zähmen und den Zufall zu domestizieren, drängt quasi vom Außen ins Innere des Spiels. Es ist der Angriff des Funktionsprinzips der Wirtschaft auf den Fußball, die Übertragung des Mediums Geld auf den Sport-Code Sieg oder Niederlage.

Tatsächlich sind die Krösusse der Liga (Bayern München, Schalke 04, Borussia Dortmund, Bayer Leverkusen) in der Regel auch die Erfolgreichen. Doch wissen die Fußball-Unternehmensmanager selbst, dass der Siegeszug des Geldes schlussendlich nicht nur der Totengräber des Fußballs, sondern auch des Geldes selbst wäre: Wenn es gelänge, den Zufall des Spiels mittels Geld zu eliminieren, den Ausgang also planbar zu gestalten, würden die Clubs mangels Interesse und Begeisterung keine Mark mehr einnehmen.

Der spanische Autor Javier Marías hat in „Alle unsere frühen Schlachten“ geschrieben, dass seine Zuneigung zu Real Madrid einer geradezu kindlichen Naivität entspringt, „dem Glauben daran, dass nichts unmöglich ist, die Katastrophe ebenso wenig wie die Heldentat, der Umsturz, die unendliche Überraschung“. Wer aus diesem Kind einen Erwachsenen machen wollte, der würde mit dem Kind den Fußball gleich mit töten.