joachim lottmann: Der Grüne Heinrich
: Der Fänger im Schlafzimmer

DER taz-SOMMERROMAN (IV): Dr. Heinrich (45, Die Grünen) ist neuerdings Ministerialrat im Umwelt- ministerium. Manchmal sitzt er in seinem Porsche. Dann schaut er seinen dicken Bauch an. Und denkt nicht daran, dass er die gelebte Neue Grüne Mitte sein könnte

Vergangenen Samstag hat Dr. Heinrich eine Christin kennen gelernt. Sie schleppt ihn in einen Vortrag.

Der Vortrag war wirklich nicht weit von Heinrichs Wohnung. Ein etwa 60-jähriger Theologe dozierte wie im schönsten 50er-Jahre-Böll-Roman über die Transzendenz.

Heinrich gönnte sich ein Nickerchen, bis er die Blicke seiner emphatischen Begleiterin spürte. Sie saß ihm gegenüber. Immer wieder sah er aus Versehen zu ihr statt zu dem selbstverliebt lärmenden, von der evangelisch-lutheranischen Kirche festangestellten Wandertheologen. Er sah auf ihren schlanken, faltenlosen Hals, sah das dünne, braune Lederband darum. Auch auf dem Hals hatte sie Sommersprossen, aber da empfahl sich eine Lupe zum besseren Betrachten. Er konnte sie ja zu sich in die Wohnung bitten; sicher war sie irgendwie obdachlos und willens, wie Mutter Teresa.

Er musste nur selbst ein zu Betreuender sein. Und so sagte er später zu ihr: „Weißt du, ich habe dich nicht aus Zufall angesprochen . . . meine Frau ist vor zwei Tagen gestorben . . . aber so sind die Wege des Herrn.“

Sie erwiderte „Amen“.

Und er sprach flüsternd von seiner Pein. Nachts könne er nicht schlafen, er verzweifle an sich und seinem Glauben, wisse nicht weiter. Erwartungsgemäß legte sie sich ins Zeug. Es gebe immer einen Ausweg, und wenn nicht, dann käme man gerade dadurch weiter, und irdische Liebe zu verlieren könne dazu führen, eine viel, VIEL schönere Liebe zu finden und so weiter.

Sie redete plötzlich so beseelt, hob richtig ab, als hätte sie „Red Bull“ im Blut, und Heinrich wurde am Ende davon angesteckt.

Vielleicht hatte sie Recht?

Sie gingen trotzdem oder deswegen noch aufs Zimmer. In die nahe Wohnung. Überall hingen die Fotos seiner „toten“ Frau. Das passte ja. Heinrich war Fotofreak, und seine Frau hatte er zumindest in jungen Jahren oft und gern fotografiert. Und „tot“ war sie ja wirklich, in einem höheren Sinne: sie war in Bonn geblieben, bei ihrem Freund.

Er war endgültig aus dem Rennen.

Sie besuchte ihn noch ab und an (vor allem nächstes Wochenende!), aber er hasste sie. Wenn das nicht eine TOTE Sache war, dann war er der Kaiser von China! Und so war seine Trauer geradezu echt.

Er trank furchtbar viel Alkohol, das Mädchen überraschenderweise auch; jedes zweite Glas trank sie mit. Sie sprachen über Gott und die Welt. Ach, es war wie in seligen Studententagen in Gerabronn.

„Man soll bescheiden sein“, forderte die schöne Heilige. Nicht in Mallorca solle man sein Geld ausgeben, sondern wandern solle man, ohne Geld. Eine tolle Vorstellung, gerade für einen Grünen, eigentlich (er sagte nichts vom Porsche). Wie auch die Vorstellung, dass der Glaube kein Alter kannte, seine Seele nicht einen Tag älter war als ihre und dass es nur darum ginge.

Und sie blieb auch bei ihm.

Im Gästezimmer, wie er es vorgeschlagen hatte. Er gab ihr Handtuch und Oberhemd, sie schlief sofort ein. Seltsam, dass ideologisch Gefestigte solch einen Murmeltierschlaf haben, dachte der grüne Politiker.

Er schlich ins Gästezimmer und betrachtete die gequälte junge Frau. Gewiss hatte sie es nicht einfach. Ihre Hinwendung zum Glauben war das gnadenlose, gewaltbereite Vorgehen gegen sich selbst. Das Ziel: (moralisch) überlegen sein um jeden Preis! Wie unsicher musste sie vorher gewesen sein, um diesen Weg zu gehen . . .

Dr. Heinrich saß noch lange an ihrem Bett. Er beugte sich, um besser sehen zu können, über sie. Sie hatte eine scharf geschnittene, sinnliche Unterlippe, aber eine dünne Oberlippe; zusammen ein ganz besonders schöngeschnittener Mund. Er sah lange darauf, wie benommen.

Frauenschönheit betörte ihn, so war er. Und so setzte er seine Lippen auf die ihren . . .

Wie wird das junge Mädchen reagieren? Muss Dr. Heinrich mit einer Strafanzeige rechnen? Auflösung: Sie reagiert wie Holden Caulfield in „Der Fänger im Roggen“, als der schwule Lehrer ihn nachts küsst. Sie lässt sich nicht davon abhalten, umstandslos die Wohnung zu verlassen. Dr. Heinrich ärgert sich weniger, als man vermuten sollte: „Wesen wie dieses trifft man nur in Büchern und im Himmel. Auf Erden trifft man sich mit denen ohnehin nicht. Das wäre nie was geworden mit der.“

Im innerparteilichen Streit um die Koalitionsaussage nimmt er beim außerordentlichen Bundesparteitag in Bochum als Sachverständiger der Novellierung der Biomasseverordnung das Wort und spricht sich nach einführenden Sentenzen über Biomasse und Großfeuerungsanlagen für eine Annäherung an die christlichen Parteien aus.

Fortsetzung nächsten Samstag