In die Hungerfalle getappt

Große Gefühle und kleine Gefühle bei Borussia Mönchengladbachs Rückkehr in die Bundesliga mit einem triumphalen 1:0 gegen die Allesgewinner von Bayern München, den Meister der Essstörung
vom Bökelberg BERND MÜLLENDER

Warum zieht es den Menschen zum Fußball? Die banale Erklärungsvariante hatte einst Sepp Herberger geliefert: Weil man vorher nie weiß, wie es ausgeht. Einen Quantensprung weiter im Bewusstsein, möchte man sagen: Im Grunde geht man zu diesem merkwürdigen Spiel, weil man es nicht versteht. Es geht um die großen Gefühle und um die Neugier, es könnte endlich was werden auf der großen Erkenntnissuche. Wieso, weshalb, warum nur – selbst die Maus hat Fußball noch nicht erklärt.

Auch Gladbach gegen Bayern, die Auftaktpartie der neuen Kirchsaison, half wenig. Schon gar nicht das scheinbar überraschende 1:0. Völlig normal, wenn ein leidenswilliger Emporkömmling sich mit Inbrunst gegen Europas Überflieger der Vorsaison stemmt. Trainer Hans Meyer hatte gesagt, so ein Erstgegner sei „psychologisch fantastisch“. Er wusste nur nicht, „was manche Münchner an manchen Tagen können“. Aber er wusste auch, dass sein Kollege Hitzfeld Probleme haben würde, „die Köpfe scharf zu kriegen“.

Die satten Bayern hatten Abstimmungsprobleme. Niko Kovac, klarer Gewinner der Münchner Fehlpasswertung, moserte nachher vor der Kabine herum: „Das mit dem hungrig“, sei doch, also wirklich, „alles Schmarrn.“ Vordergründig klang der Kroate gut assimiliert, weil er gleich nach dem ersten Spiel mit landestypischem Vokabular (Schmarrn) aufwarten konnte. In der Sache aber war es das Gegenteil, was zur gleichen Zeit sein Trainer Ottmar Hitzfeld als erster Ernährungsfachmann seiner Elf feststellte: „Uns hat der absolute Hunger gefehlt.“

Dabei war auch Hitzfeld in die Hungerfalle getappt. „Wir haben nicht die Leistung gebracht, um einen Punkt zu holen“, sagte er so nebenbei. Einen? Seit wann reicht den Triumphesammlern und Überfliegern einer? Zumal bei einem Aufsteiger, der „auch aus so was wie Dankbarkeit“ (Meyer) mit seiner Zweitligaelf auflief. Nein, die zuletzt Unersättlichen haben wirklich akute Essstörungen. Oliver Kahn stellte fest, eine „kleine Bequemlichkeit“ habe „sich breit gemacht“. Wer sich an Europas Festbuffets hat durchfüttern lassen, stellt sich in der Provinz nicht für einen Eintopf in die Schlange.

Es war stets der halbe Schritt, den die Münchener zu spät kamen. Chancen hatten sie meist bei Fehlern der leidenschaftlichen, aber wahrlich nicht glänzenden Borussen. Taktisch bravourös war es allerdings, sich die Münchner Super-Last-Minute-Krieger in den Minuten 90 bis 92 durch bedingungslose eigene Offensive vom Leib zu halten. Bayerns Arroganz fehlte das Fundament. Die Allesgewinner ließen gönnerhaft gewähren.

Die Bayern-Lethargie war am augenfälligsten an Bixente Lizarazu festzumachen. Der kleine Welt- und Europameister war kaum ein Schatten seiner selbst – und das nicht nur wegen seiner Größe. Gegen Bernd Korzynietz, den in Liga 2 viele schlichte Grätscher hatten stoppen können, gab es so manches gefeiertes Zweikampfdebakel. Lizarazu war bester Beleg: Was ein Quäntchen für den Einzelnen, wird zum belastenden Quant für das Ganze.

Die großen Gefühlen wie der bebende Stolz der Borussenfreunde waren banal. Spannender war es bei Gladbachs neuem Keeper, Jörg Stiel aus der Schweiz. Sein großes Problem, sagte er, sei vorher der unbekannte Bökelberg gewesen: „Gerade als Torwart“ müsse man „ein Stadion fühlen“. Und legte zur Verdeutlichung seine rechte Faust in die geöffnete Linke und rieb sie ein wenig hin und her: „Ein Stadion um dich herum muss sich rund anfühlen.“ Was es dann auch tat.

Vorher hatte das runde Stadion mit den vielen Ecken die neue Clubhymne intoniert, ein brüllend lautes und stumpffetziges Opus, eindeutig von den Toten Hosen, wenn die nicht Düsseldorfer wären. Darin wird gelogen: „Und wenn wir mal verlieren, dann macht uns das nichts aus.“ Am Samstag gab es zur Überprüfung keine Gelegenheit, aber Coach Meyer konnte beruhigen: „Wir werden noch genug auf die Schnauze bekommen.“

Nicht immer sind die Gegner halt so dankbar wie der bayerische Patient. Nächste Woche geht’s nach Kaiserslautern zum ersten Tabellenführer der Saison. „Den Betzenberg kenn ich noch nicht“, sagt Jörg Stiel. Die Bayern könnten derweil daheim gegen Schalke verlieren und ihren Versuch fortsetzen, mal mit 34 Niederlagen Meister zu werden. Dann wüssten wir, ob Diät wirklich fett macht und ob im Fußball Hungerleider vor Leibesfülle platzen können. Es gibt noch viel zu erkenntnissen. Quäntchen für Quäntchen.

Borussia Mönchengladbach: Stiel - Eberl, Korell, Pletsch, Witeczek - Hausweiler, Nielsen, Demo (84. Asanin) - Korzynietz (72. Küntzel), van Lent, van Houdt (78. Ulich)Bayern München: Kahn - Salihamimdzic, R. Kovac, Linke, Lizarazu - Hargreaves, N. Kovac (78. Zickler), Effenberg, Sergio (46. Scholl) - Elber, Jancker (68. Santa Cruz)Zuschauer: 34.500Tor: 1:0 van Lent (23.)