Der nützliche Genosse

von BARBARA BOLLWAHN DE PAEZ CASANOVA

Am Telefon bereitet Gerhard Schürer die Besucherin schon einmal auf das Schlimmste vor. „Ich muss Sie warnen“, sagt der 80-Jährige am Telefon. Vor Wanzen im Fußabtreter? Vor einem bissigen Hund? Vor dem Blick aus dem Schlafzimmer, weil dort einst die Mauer verlief? Weit gefehlt. Es geht um den hellen Teppichboden in der Neubauwohnung nahe dem Brandenburger Tor, wo Schürer mit seiner 51-jährigen Frau und der 14 Jahre altenTochter lebt. Weil seine Frau ganztags arbeitet und er für den Haushalt zuständig ist, müssen seine Gäste die Straßenschuhe gegen Hausschuhe tauschen. Der Mann, der als Chef der DDR-Plankommission 25 Jahre lang „auf dem Schleudersitz der Nation“ saß, trägt zu einem kurzärmligen weißen Hemd und weinrot-blau gestreifter Krawatte ebenfalls Schlappen. So ist die Gleichheit zumindest an den Füßen hergestellt.

Gerhard Schürer ist eine Ausnahme unter den in die Jahre gekommenen Politgrößen der DDR. Trotz seines hohen Alters, trotz implantierten Hüftgelenks und Thrombosebeins ist er nicht nur im Haushalt als Arbeitskraft gefragt. Bevor er sich nachmittags um die Tochter kümmert, den Einkaufswagen durch den Supermarkt schiebt und die Wohnung sauber macht, arbeitet Schürer vormittags bei Europas größtem Dienstleister Peter Dussmann. In dessen Firmenzentrale an der Berliner Friedrichstraße wertet er Zeitungsartikel aus und fungiert als Berater für den Mann, der weltweit Putzkolonnen und Wachschützer befehligt.

Es ist leicht zu erklären, wieso Dussmann einen 80-jährigen Exfunktionär beschäftigt: wegen dessen Kontakten zu ehemaligen Bruderländern der DDR. Als der Unternehmer 1993 seine Fühler nach Fernost ausstreckte, nahm er Verbindung zu Schürer auf. Damals eröffnete Dussmann Niederlassungen in Russland, Vietnam und China. Und Schürer, der schon früher mit brisanten Zahlen jonglierte, ist auch in seinem neuen Halbtagsjob „ängstlich darauf bedacht“, keine Interna preiszugeben. „Dussmann ist ein Teil meines Lebens“, sagt er voller Dankbarkeit. „Ich bin so glücklich, noch arbeiten zu dürfen.“

Mehrmals ist Schürer nach der Wende in Vietnam gewesen, auch auf Einladung früherer Genossen. Bis heute nicht vergessen seien die vielen Tonnen Reis, erzählt er stolz, mit denen die DDR das sozialistische Bruderland während einer Hungersnot unterstützte. Gegenüber dem kapitalistischen Ausland hingegen hatte Schürer, der als Planungschef ausschließlich sozialistische Staaten oder Entwicklungsländer bereiste, lange Zeit Berührungsängste.

Als die Mauer fiel, dachte er nicht an Shopping und Begrüßungsgeld – dafür war er „zu aufgeregt und mit der DDR verbunden“. Dann saß er drei Wochen in Untersuchungshaft. „Die schlimmste Zeit in meinem Leben.“ Seine jüngste Tochter war damals erst drei Jahre alt. Lange Zeit nach der Haft traute er sich nicht auf die Straße, weil sich der Zorn von DDR-Bürgern auf das Politbüro auch an ihm entlud.

Erst ein gutes Jahr nach dem Mauerfall fuhr er zum ersten Mal nach Westberlin. Ein Unternehmer, dem er Geschäfte in Moskau vermitteln sollte, kutschierte ihn und seine Frau zur Gedächtniskirche, spendierte den beiden ein Eis und zeigte ihnen den Kurfürstendamm. „Die Gemüseläden beeindruckten mich“, sagt Schürer. Beschwörend faltet er die Hände vor der Brust: „Das hätte ich mir gewünscht für die DDR.“ Und erst „die schönen Auslagen“ der Juwelierläden! Doch als sich vor dem Schaufenster eine alte Frau mit einem Stück Pappe zum Schlafen legte, sei für ihn der Glanz verblasst. Da lobt sich Schürer „die Chinesen und Vietnamesen, die Marktwirtschaft und Sozialismus verbinden. Warum soll man diese Hoffnung nicht äußern können?“

Um sich zu beschäftigen, begann der ehemalige Held der Arbeit und Träger des Karl-Marx-Ordens zu malen. Landschaften in Öl. Aber mit seinen Bildern verdiente Schürer kein Geld. Um seine „politisch begrenzte Rente“ aufzubessern, nahm er deshalb jeden Job an, den er bekommen konnte. Für die Firma, in der seine Frau als Sekretärin arbeitete, wusch er Gardinen. Er pflegte eine bettlägerige Frau und kümmerte sich um ihren Haushalt. 1993 setzte er sich an einen Computer und schrieb drei Jahre lang an seiner Biografie, die unter dem Titel „Gewagt und verloren“ erschien. Seit der kleine Verlag Pleite ging, ist das in bürokratischem Stil gehaltene Buch über das Kulturkaufhaus seines neuen Arbeitgebers Peter Dussmann zu beziehen.

Es mache ihm nichts aus, dass er vom mächtigen Planungschef zum einfachen Rentner abgestiegen sei, sagt Gerhard Schürer. Wie der Mann mit den weißen Haaren auf dem graubraun gemusterten Sofa sitzt, hinter sich einen Blumenwagen, neben sich akkurat gesetzte Kissen und vor sich einen Couchtisch mit Deckchen – da wirkt er nicht wie ein verbitterter Funktionär, der dem Zehnzimmerhaus im Prominentenviertel Wandlitz nachtrauert. „Ich kann ohne innere Umstellung im Schloss oder in einer Kate leben“, sagt er. Er sieht aus wie ein liebenswerter Opa, dessen Gesicht ein wenig an Erich Mielke erinnert. Doch anders als der Stasichef hat er die Bodenhaftung nicht verloren. Schürer will nicht alle Menschen lieben, sondern in erster Linie seine Familie. Zu ihr gehören auch drei eigene und drei angeheiratete Kinder aus zwei früheren Ehen – und mittlerweile zehn Enkel. Einige Jahre nach der Wende hatte er sich im neuen System „eingelaufen“, wie Schürer sagt. 1994, da war er schon seit einem Jahr Berater bei Dussmann, reiste er nach Moskau – als Türöffner und Dolmetscher für einen kanadischen Edelmetallproduzenten, eine Allgäuer Textilfirma und eine Kaffeerösterei. Wegen der „großen Bürokratie“ in Russland sei aber aus keinem der Geschäfte etwas geworden. Erfolgreich hingegen waren Schürers Bemühungen für die Lufthansa, die ihm die Landeerlaubnis in Vietnam verdankt. Als Gegenleistung bekam der Vermittler eine Reise in die Algarve spendiert. „Das Hotelzimmer hat 350 Dollar gekostet“, schwärmt er noch heute.

Auf eigene Kosten ist Schürer seit der Öffnung der Grenzen nur einmal verreist: nach Kuba. Es war eine Nostalgiereise – aber nicht in die politische, sondern in die private Vergangenheit. Bei einer Dienstreise zu DDR-Zeiten hatte er sich auf der Karibikinsel in seine Sekretärin verliebt. Damals noch in zweiter Ehe verheiratet, musste er aus Gründen der Parteiräson zunächst den Genossen Erich Honecker über die bevorstehende Scheidung informieren. Achtzehn Jahre später schwärmt Schürer immer noch: „Es ist wunderschön, mit so einer jungen Frau verheirat zu sein.“ Er sagt es mit der gleichen Leidenschaft, mit der er sich darüber erregt, dass von der DDR das Zerrbild eines „Verbrecherstaats mit maroder Wirtschaft“ gezeichnet werde.

In Schürers Wohnung ist die Vergangenheit gegenwärtig. Fast alles, was an den Wänden hängt, auf Kommoden oder in der Schrankwand steht, erinnert an seine Zeit als Planungschef. Der in Öl gemalte Hahn im Wohnzimmer ist ein Geschenk von Fidel Castro. Die vietnamesischen Wandteppiche im Flur hat ihm der vietnamesische Ministerpräsident geschenkt, die mit Gold überzogenen Kaffeetassen bekam er vom tschechischen Regierungschef. Dazu kommen jede Menge Holzfiguren aus Tansania, Mosambik oder Indien.

Schürer bewegt sich zwischen zwei Welten. Einerseits fährt er jeden Morgen zu Dussmann, in einem gebrauchten Mercedes, den er einem Botschafter vor ein paar Jahren abgekauft hat. Und im Supermarkt gleich um die Ecke trifft er Leute wie die CDU-Chefin Angela Merkel oder den SPD-Generalsekretär Franz Müntefering. Aber diese Welt interessiert ihn nicht. Lieber bleibt er zwischen den Regalen zu einem kleinen Plausch mit seinem früheren Genossen Günter Schabowski stehen. Regelmäßig trifft sich Schürer mit seinem Freund Egon Krenz oder mit dem ehemaligen Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski. Einst redeten die beiden über Valuta, heute tauschen sie sich über Knieprobleme aus.

Der PDS, aus der Schürer 1990 ausgeschlossen wurde, steht er noch immer nahe – wegen „persönlicher Kontakte“, und weil er keine bessere Partei wisse. Die Bekenntnisse der PDS zum Bau der Mauer hält er für ausreichend. „Der Mauerbau war eine notwendige Maßnahme.“ Wie viele seiner früheren Genossen verweist er lieber auf die CDU und deren Spendenaffären. „Dafür hat sich auch niemand entschuldigt.“ An der PDS hat Schürer, der sein Abonnement des Neuen Deutschland nie unterbrochen hat, allerdings auch einiges auszusetzen. Zum Beispiel ihre Skepsis gegenüber neuen Technologien und ihre Forderung, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wieder einzuführen. ,„Das verdirbt die Moral.“

Wenn Schürer von der Bundesrepublik spricht, dann meint er bis heute nur die alten Bundesländern. „Meine Heimat ist die DDR gewesen“, sagt er. Weil er in Deutschland geboren wurde und auch in Deutschland sterben werde, sei er nun mal Deutscher. Aber wirklich zu Hause habe er sich nur in der DDR gefühlt – „vom Ziegelabputzer nach dem Krieg bis in den Untergang“.