herr tietz macht einen weiten einwurf
: FRITZ TIETZ über seinen Etappensieg bei der Tour

Das Einzelzeitfahren von Wisch

Viele Geschichten der Tour de France gelten als legendär mittlerweile und werden immer wieder gern erzählt. Die über Maurice Garin beispielsweise, der 1904 erwischt wurde, als er eine Etappe mit der Eisenbahn bewältigte. Oder die von Henri Alavoine, der 1909 sein kaputtes Rad 10 Kilometer weit ins Ziel trug. Unvergessen auch Eugène Christoph, dem 1913 ausgerechnet am Tourmalet die Gabel brach, worauf er sein Rad 14 Kilometer zur nächsten Schmiede schleppte, wo er es ohne fremde Hilfe, so wollten es die Regeln, reparierte. Als er nach vier Stunden wieder aufsteigen konnte, erhielt er allerdings eine Strafminute angerechnet. Ein Junge hatte ihm regelwidrig beim Schmieden den Blasebalg getreten.

Diesen alten Legenden gilt es jetzt eine ganz frische hinzuzufügen. Sie ereignete sich während der gerade beendeten diesjährigen Frankreichrundfahrt und hat es durchaus verdient, fortan zu den ewigen Tour-Mythen gerechnet zu werden. Es geschah während der 13. Etappe mit diesen sechs, zum Teil extrem schweren Bergprüfungen in den Pyrenäen, auf der Jan Ullrich später stürzte. Das Fahrerfeld hatte bereits die ersten zwei Berge passiert, als rund 3.000 Kilometer nördlich im nordfriesischen Flecken Wisch, etwa zwischen Husum und Friedrichstadt gelegen, ein Mann aus dem Ferienhaus heraustrat, in dem er mit seiner Frau und den beiden Töchtern seinen Urlaub verbrachte. Dieser Mann war ich, und der Grund, warum ich das Haus samt dem darin die 13. Etappe live übertragenden Fernseher verließ, war jenes Verlangen, das mich als Raucher gelegentlich anspringt. Kaum jedoch, dass ich mir draußen eine Zigarette angesteckt hatte, klappte hinter mir die Haustür – und zwar zu.

Nun bedeutet eine eigenmächtig zufallende Haustür normalerweise kein Problem. Wenn sie aber anschließend nicht mehr zu öffnen ist, weil den dazu notwendigen Schlüssel die Frau einstecken hat und die – um nämlich dem Vati einen ungestörten Tour-Tag vor dem TV zu gönnen – mit den Töchtern zum Tretbootfahren nach Friedrichstadt gefahren ist, kann eine zufallende Haustür zu einem regelrechten Ärgernis werden. Und das um so mehr, wenn hinter ihr im TV eine so vorentscheidende und spannende Etappe läuft wie diese 13., deren Fort- und vor allem Ausgang ich jetzt wohl verpassen würde – so ich nicht baldmöglichst an den Haustürschlüssel käme.

Bis zum voraussichtlichen Etappenende blieben mir dazu zwei Stunden. So schnappte ich mir kurzerhand das alte Damenfahrrad, das, zum Inventar des Ferienhauses gehörend, bisher bloß ungenutzt herumgestanden hatte, und machte mich umgehend auf die neun Kilometer lange Etappe nach Friedrichstadt. Eine flache Strecke, auf der jedoch ein heftiger Gegenwind wehte. Zudem waren meine Reifen ziemlich platt, sodass ich erst noch an einem Gehöft halten und eine Luftpumpe leihen musste. Wertvolle Sekunden gingen so verloren. Trotzdem hatte ich nach 38 Minuten Friedrichstadt erreicht. Um das Tretboot der Familie in den verzweigten Grachten Friedrichstadts zu finden, meiner Frau alles zu erklären und mir den Schlüssel vom Boot aus zuwerfen zu lassen, vergingen allerdings quälende 53 Minuten. Die neun Kilometer zurück nach Wisch bewältigte ich in rückenwindunterstützen 34 Minuten und wäre wohl gut zwei Minuten schneller gewesen, wenn ich nicht noch am Bahnübergang von Koldenbüttel einen Zug hätte passieren lassen müssen.

Mit brennenden Lungen und wundgesatteltem Hintern kam ich wieder in Wisch an; das aber immerhin einige Minuten, bevor Lance Amstrong die Ziellinie in Saint-Lary-Soulan als Erster überfuhr. Ein Vorsprung, der mir am Ende die vage Empfindung einpflanzte, der zumindest gefühlte Sieger dieser alles in allem ziemlich aufreibenden 13. Tour-Etappe geworden zu sein.

Fotohinweis:Fritz Tietz, 42, lebt als Nachfahre ostpreußischer Einwanderer in der Nordheide und treibt gelegentlich Sport.