Blutige Allegorien

Die Welt ist nicht genug (1): Die Präsenz der Medien ließ die Symbole von Macht und Gegenmacht beim Gipfel in Genua ziemlich verbraucht erscheinen. Über Fehlberechnungen und falsche Kostüme

■ Seattle, Tokio, Göteborg und Genua – die Weltordnung der „New Economy“ wird nicht länger als Chefsache akzeptiert. Mit der Wahrnehmung sozialer Ungerechtigkeit wächst auch der Widerstand. Wie aber sehen die Gegner der Globalisierung aus? Was treibt sie an? Und welche Kultur entsteht aus dem neuen Protest?

von KLAUS KREIMEIER

Denkwürdiger Fernsehsommer: Die Bildermaschine spielt Hollywood, übertrumpft Eisenstein und lässt mit ihren Signalen aus der Wirklichkeit innerhalb von drei Tagen das Genrekino von Jahrzehnten verblassen. Pünktlich zum Fall der Börsenkurse brechen aus den Flanken des Ätna Feuergarben, wie sie kein Maler der Apokalypse malte, und während acht Beamte in einem alten genuesischen Palast heraldische Tableaus der Verantwortung üben, feiern die selbst ernannten Sansculotten des globalen Jahrhunderts ihren ersten Toten. Das neue Jahrhundert, elektronisch und digital, rennt den alten Mythen davon und wird von ihnen doch immer wieder eingeholt. Helden sind gefragt, doch es bleibt nur das medienglitzernde Update obsoleter Posen.

Explosives Szenario

Das Szenario von Genua, allgemein als Explosion wahrgenommen, erwies sich als eine Gemengelage implodierender Fehlberechnungen. Offenkundig wurde, dass die Legitimationsrhetorik der New Economy, ein entfesselter Finanzmarkt werde auch die Not der marginalisierten Weltbevölkerung in Asien, Afrika und Lateinamerika wenden, ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt hat. Nicht mehr zu übersehen war, dass die gewählten Staatslenker teils zu schwach, teils unwillens sind, sich angesichts der ökonomischen Selbstläufe auf Steuerungsinstrumente, gar auf ein politisches Regelwerk zu besinnen. Aberwitzig war ihr Vorhaben, der Welt ein Spektakel demokratischer Kontrolle und „konsensueller“ Strategiefindung zu präsentieren – und sich gleichzeitig in einer stahlzaunbewehrten Luxusfestung einzumauern, von der sich selbst die Tyrannen der spätmittelalterlichen italienischen Stadtstaaten mit Grausen abgewandt hätten. Als Fehlkalkulation verpuffte die Hoffnung der organisierten Globalisierungskritiker, mit den Mitteln des aufgeklärten Diskurses und argumentativer Überzeugungskraft die öffentliche Meinung zu mobilisieren.

Filmreifes Schlachtfeld

Nur ein Konzept ging auf: das der italienischen Polizei in der Ära Berlusconi, deren Aufmarsch im Stil der Prätorianergarden eines martialischen Römerfilms ausreichte, um das Schlachtfeld zu präparieren, das die „Chaoten“ und die Medien haben wollten. Chaoten? Sagen wir besser: die Regimenter der sozialen Depravierung und intellektuellen Ohnmacht, die den Kameras seit Seattle zuverlässig das älteste, sprachloseste und gewinnträchtigste Bildmaterial liefern: das der Gewalt.

Aber alles ist irgendwie falsch. Aus Fehlberechnungen, so scheint es, resultiert auch eine morbide Ikonografie, deren Verbrauchtheit an die Hermetik alter Allegorien gemahnt. Allegorien sind Symbole im Zustand ihrer semantischen Erstarrung – wie die roten Fahnen vor der „roten Zone“ in Genua, wie die Gasmaske des Streetfighters in den Rauchschwaden über der Piazza Dante. Der Kapitalismus brachte einmal Revolutionen und Gaskriege hervor. Doch inzwischen ist er in eine neue Dimension aufgebrochen, die noch ihre Bildsprache sucht oder gar keine mehr benötigt. Die TV-Werbung hat die Rolle der ästhetischen Avantgarde übernommen und die Herrschaft über alle anderen Bilder der Medienindustrie – Spielfilme, Dokumentarfilme, „Soaps“, Reportagen – angetreten. Sie dirigiert zunehmend unsere Wahrnehmungserwartungen und -strategien im Feld des Sichtbaren überhaupt. Zugespitzt gesagt: Alle Bilder aus Genua waren Reklamebilder, die für irgendeine fehlgeschlagene Kalkulation Reklame machten.

Keine Werbung brauchen die Großkonzerne, die Bankentrusts und die internationalen Finanzinstitute, jene monströsen Gebilde der Geldabstraktion, die den konkretesten Part im globalen Spiel bilden und Tatsachen schaffen, ohne über sie reden zu müssen. Weitaus schwerer haben es jene acht politischen Beamten, Korruptionsverdächtige unter ihnen und Mafiafreunde, die im politischen Alltagsgeschäft längst zu Marionetten der Yellow Press und der Talkshows herabgesunken sind. Nun mussten sie bei Fahnen und Wappen, heraldischer Symmetrie und historisierendem Gepränge Anleihe nehmen, um den Gipfel als Weihestunde kollektiver Verantwortung erscheinen zu lassen. Bei einer Feudalästhetik, der ein pompös renovierter Palazzo Ducale das Renaissance-Ambiente und Silvio Berlusconi sein digitalisiertes Lächeln lieh. Da kam einiges nicht zusammen; der Aura- Diebstahl wurde zur stilistischen Katastrophe und überschminkte vergeblich das Desaster der Politik. „Klotzhohl“ – so kritisierten sogar Schröders Berater das realitätsferne Ritual.

Nicht minder realitätsfern die Ritualgestik der unmittelbaren Gewalt. Längst wird sie aufgezehrt von der Struktur des Seriellen, der Wiederkehr des Immergleichen, aus der die Medienindustrie ihr Kapital saugt, um es in neue Serienstaffeln zu investieren. Ihr dienen die Anarchogruppen als wohlfeile Hilfstruppen: nicht Nachfahren, sondern eher gespenstische Wiedergänger jener Sansculotten, die einst der Hunger antrieb, die Symbole der Kapitalherrschaft zu stürmen. Nur sein Inventar und seine Staffage hat das Zeitalter der Revolutionen an die Randgruppen der Gegenwart, an die Riot-Szenarien von Göteborg und Genua weitergegeben: die brennende Barrikade, die erhobene Faust. Und die Todes-Ikone des erschossenen Aufrührers, die Blutlache auf dem Asphalt und die stereotype Formel von „Trauer und Wut“, die heute nicht etwa die Massen der Erniedrigten und Beleidigten bewegt, sondern durch die einschlägigen Chatrooms des Internets geistert.

Sprachlose Gewalt benötigt den ermordeten Gewalttäter nicht mehr als Märtyrerfigur, sondern als „Kick“ und Selbststimulanz für weitere Aktionen. Als „Kick“ passt er haargenau in die Seriendramaturgie einer Bilderindustrie, die immer wieder Höhepunkte schaffen muss, um sich aus ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit zu reproduzieren.

Die Todes-Ikone ist zeitlos; sie ist das Zentrum, das Allerheiligste und das geheime Ziel jeglicher Gewalt-Ikonografie. Jeder ermordete Gerechte gleicht der Ikone des Gekreuzigten – so auch Carlo Giuliani, als sich eine Sanitäterin über seinen Leichnam beugte. Was vorausging, glich allerdings eher der Showdown-Szene eines Action-Reißers: Mann gegen Mann, Feuerlöscher gegen Pistole. Vermutlich wurde Giuliani nur darum nicht zum Mörder, weil ihn eine schnellere Waffe niederstreckte.

Semantik der Gewalt

In den Chatrooms der unabhängigen Agentur „Indymedia“ läuft derzeit eine selbstkritische Reflexion der Semantik, die nach Genua in der Szene neue Sumpfblüten hervorgetrieben hat: Ist es legitim, einen italienischen Polizisten als „Bastard“ zu beschimpfen; ist es nicht ein Zeichen geistiger Verwirrung, wenn die brutale Prügelei der Carabinieri in der Diaz-Schule mit einem „Massaker“ verwechselt wird?

Die Hooliganisierung der Sprache begann bereits bei den 68ern. Auch jene Fixierung auf die Nicht-Sprache physischer Gewalt hat in früheren Protestgenerationen ihre Wurzeln: ein Außersichsein der Ohnmacht, die kataraktartig Macht, Körper-Macht mittels Zerstörung begehrt. Es kennzeichnet die Bilderindustrie, dass sie den historischen Verschleiß revolutionärer (oder auch nur revolutionaristischer) Gewaltformen nicht reflektiert, sondern die Verfallsprodukte als Highlights ihrer aktuellen Berichterstattung ausstellt.

Die Ermordeten der Commune waren noch, so Marx, „im großen Herzen der Arbeiterklasse eingeschreint“. Der Tote von Genua funktioniert heute als Programm-Teaser, als kaum verhohlene Ankündigung kommender Exzesse, Liveberichterstattung inklusive.

Chaos der Verhältnisse

Das Seltsame ist, dass in diesem komplett medialisierten Kräftefeld jeder auf den anderen angewiesen ist. Die aufgestaute Frustration in den Ballungszentren und urbanen Einöden unserer Welt benötigt die Provokation der G-8-Maskeraden, um sich in einer freilich nur scheinhaften Kollektivität vorübergehend zu entladen. Die Propaganda des friedfertigen Widerstands, der wortmächtige Protest, das inständige Werben der lokalen oder global vernetzten Organisationen für eine demokratische, sozial verträgliche Ordnung der Welt verlöre sich im medialen Rauschen, setzte nicht die Gewalt ihre flammenden Fanale, die für das Bühnenlicht, für die Kameras und die begehrte Quote sorgen. Die Staatsgewalt bedarf ihrer Feinde, um medienwirksam ihr Monopol zu demonstrieren. Und die Regierenden brauchen das Chaos auf den Straßen, um sich am Chaos in der Welt vorbeizuschwindeln. Die Fehlberechnungen, die falschen Kostüme und geliehenen Gesten sind untereinander anschlussfähig.