Frisches Wasser gibt es nicht

In der Gemeinde Koprzywnica gab es nie eine Kläranlage. Nun hat das Hochwasser die Jauche in 500 Häuser gespült. Die Brunnen sind verseucht

aus Koprzywnica GABI LESSER

Von weitem sieht es idyllisch aus: ein Holzhaus, direkt an einem kleinen See gelegen, blühende Sommerstauden, dahinter zwei rote Backsteinscheunen aus dem 19. Jahrhundert mit leuchtend grünen Türen. Doch Maria Bochinska steht vor ihrem kleinen Gehöft im südpolnischen Koprzywnica und schlägt sich immer wieder mit den Fäusten an die Stirn. Sie weint haltlos. „Kommen Sie, kommen Sie doch“, stürzt sie auf jeden zu, der die Armia-Krajowa-Straße entlanggeht. „Sehen Sie sich das an!“ In viel zu großen Gummistiefeln stapft sie auf die Haustür zu. Es stinkt entsetzlich.

Im Wasser schwimmen tote Würmer und Fäkalienklumpen. „Da“, sagt sie und deutet auf den Fluss, der keine zwanzig Meter entfernt vom Haus vorbeifließt. Im warmen Sonnenschein wirkt er völlig friedlich. „Sehen Sie, was die Koprzywianka angerichtet hat!“ Die 42-Jährige nimmt zwei Stufen auf einmal und steht in einer Küche, die aussieht, als habe hier ein Orkan gewütet. Herd, Kühlschrank, Stühle und Küchentisch, zerbrochenes Geschirr, eine schöne alte Küchenwaage liegen quer durcheinander in einer stinkenden brauen Wasserlache. Als der Damm brach und die Flutwelle als erstes direkt in das Haus von Maria Bochinska schoss, zerstörte das Wasser alles bis zu einer Höhe von zwei Metern. Im Wohnzimmer liegt ein großer Spiegel zerborsten auf dem Boden, Sofa und Kissen sind vollgesogen mit der braunen Brühe, auf den Betten im Schlafzimmer kriechen Würmer aus den Dreckklumpen. „Es war alles gerade renoviert“, weint Frau Bochinska. „Für meine Mutter. Wenn sie aus dem Krankenhaus zurückkommt, sollte sie es schön haben. Sie ist schon über achtzig Jahre alt. Und sie hat ihr ganzes Leben hier verbracht. Ich wollte, dass sie es schön hat, wenn es nun schon ans Sterben geht.“

Sie weint wieder. Dann tritt sie auf die Hausschwelle und deutet hinüber auf die beiden Scheunen. „Das Stroh kann ich doch jetzt wegwerfen. Die Gemüseernte. Alles!“ Koprzywnica, ein großes Dorf mit über 7.000 Einwohnern bei Sandomierz in Südpolen, hat nur in den höher gelegenen Teilen eine Kanalisation. Die Bauernhöfe und Häuser direkt am Fluss Koprzywianka leiten alle Abwässer in Jauchegruben, die mehrmals im Jahr gelehrt werden. Hier gibt es auch kein fließendes Wasser. Jede Familie hat einen Brunnen vor dem Haus. Neben dem entsetzlichen Gestank in den Häusern ist das die größte Sorge der Hochwasseropfer: „Wann werden wir wieder frisches Wasser haben?“ Möglicherweise sind die alten Brunnen, in denen jetzt die Jauche steht, nie wieder zu benutzen. Dann müssten neue gebohrt werden. Vielleicht aber werden nun auch endlich Wasserleitungen gelegt.

Auf dem Damm gehen junge Leute auf und ab. Sie kontrollieren, ob die Sandsäcke kein weiteres Wasser durchlassen. Malgorzata Bekszynska hat in der Nacht vor drei Tagen geholfen, den geborstenen Damm zu flicken. Die 23-Jährige in kurzen Shorts und blauer Sportjacke zuckt die Schultern: „Sie haben uns gewarnt. Um zwei Uhr in der Nacht haben uns die Feuerwehrleute geweckt und gesagt: ‚Bereitet euch vor: eine zwei Meter hohe Flutwelle rollt auf Koprzywnica zu‘. Aber wir haben es nicht geglaubt und nur ein paar Sachen nach oben gebracht.“ Sie zieht den einen Gummistiefel aus, gießt die Jauche in den Fluss und meint gedehnt: „Das war ein Fehler.“ Dann deutet sie auf das andere Ufer. „Normalerweise ist die Koprzywianka hier drei Meter breit, höchstens vier. Jetzt sind es vierzig.“ Der Wall auf der anderen Seite hat gehalten, weil er vor ein paar Jahren erneuert worden war. Dass der zweite Wall brechen konnte, wussten alle.

Da es in Koprzywnica aber noch nie eine Überschwemmung gegeben hatte, hatten andere Projekte Vorrang, darunter die Kläranlage am Ausgang des Dorfes. Als der Damm dann gleich an zwei Stellen brach und an einer dritten das Wasser über den Damm hinwegschwappte, schoss die Flutwelle in rund 500 Häuser und zerstörte dort bis zu einer Höhe von zwei Metern alles, was die Einwohner nicht rechtzeitig in den ersten Stock gebracht hatten. Malgorzata Bekszynska, die ihr Haus noch immer nicht betreten kann, da das Wasser vor dem Eingang einen halben Meter hoch steht, war am Katastrophentag von der Feuerwehr gerettet worden. Schon auf dem Balkon hatte die junge Frau den Feuerwehrleuten zugerufen, dass sie zum Damm wollte, um das Loch zu stopfen. Stundenlang hatte sie zusammen mit Soldaten und Freiwilligen aus dem Dorf Sandsäcke geschleppt.

Stefania Wochinska lehnt am Tor vor ihrem Hof und hat nur einen Wunsch: „Ich möchte mich mal wieder waschen!“ Die Sechzigjährige rettet unermüdlich, was sich retten lässt. Viel ist das nicht. „Immerhin“, lacht sie bitter und öffnet einen weißgrauen Leinensack, in dem vier klatschnasse Hühner sitzen, „die habe ich eben noch vom Misthaufen holen können. Die anderen vierundvierzig sind ertrunken und schwimmen da hinten irgendwo in der Brühe.“

Sie drückt ihrem Sohn den Sack in die Hand und stapft durch das kniehohe Wasser zurück zum Haus. Küche und Vorratskammer liegen im Keller, aus dem geöffneten Fenster treiben wie in Zeitlupe Töpfe, Plastikschüsseln, eine rote Kehrrichtsschaufel. Dazwischen weiße Würmer und matschige Strohhalme. Auf einem Holzbrett balancierend fischt die Sechzigjährige nach einer der bunten Schüsseln. Als sie sich aufrichtet, wirft sie einen Blick zum Stall: „Ich wüsste gerne, wie es da aussieht. Aber um da hinzukommen, müsste ich bis zum Bauch ins Wasser.“ Sie verzieht angewidert den Mund, hält inne, als wollte sie sich übergeben, zieht ein Taschentuch aus dem blauen Kittel und drückt es sich vor den Mund. Dann erzählt sie, dass sie die Kuh und die drei Kälber noch rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte. Ob allerdings der Hahn noch lebt, weiß sie nicht. Vorsichtig tritt sie den Rückweg an, ein falscher Schritt und sie würde in der Kloake liegen. Wieder am Tor sagt sie: „Bei Hochwasser denkt man an Wasser, an Schlamm und Dreck. Aber an so was hier?“

Im Nachbarhaus reißt Wincenty Kozinski die Holzverkleidung von den Wänden. Der große Mann hält nur mit Mühe die Tränen zurück, seine Arbeitshose und der rote Pullover stehen vor Dreck. „Ich werde dieses Haus wieder aufbauen. Koste es, was es wolle. Ich bin hier zu Hause!“ Voll innerer Wut trägt er Kiste um Kiste mit zerstörtem Hausrat nach draußen. Am Gartenzaun hängen Schuhe, ein verschlammter Overall und ein paar Töpfe. Schuld an der Flut sei die Regierung in Warschau. „Die interessiert doch einen Dreck, wie es uns auf dem Land geht. Die Pumpen haben sie hier weggeholt, um Sandomierz zu retten. Aber da gibt es gar keine Überschwemmung! Und wo sind jetzt die Pumpen? Immer noch in Sandomierz!“ Auch von der versprochenen Hilfe habe er noch nichts gesehen. Sechstausend Zloty – umgerechnet 3.000 Mark – hat die Regierung jedem Hochwasseropfer versprochen. Doch es sei noch nicht mal einer vorbeigekommen und habe gefragt, wie es ihnen gehe. Oder würde erklären, welche Krankheiten ihnen nun drohten, wie sie die Häuser trocknen müssten und mit welcher Farbe die Wände zu streichen seien, um dem Pilz zuvorzukommen. „Die in Warschau, die lassen uns hier in der Scheiße sitzen!“