„Widerstand durch Vergnügen“

Der Musiksender MTV feiert heute seinen 20. Geburtstag. Mit seinen flotten Bildern veränderte er die Sehgewohnheiten einer ganzen Generation – zum Guten? Zum Schlechten? Und war da noch mehr? Drei Fragen an den Medienforscher Axel Schmidt

Ohne politischen Auftrag sorgt sichMTV nur um politische Korrektheit

Heute vor 20 Jahren wurde ein neues Fernsehgenre geboren – der Musikclipsender MTV ging auf Sendung. Und mit ihm begann eine Kulturrevolution des Alltags, gerade für Jugendliche. Der Medienforscher Axel Schmidt von der Frankfurter Johann Wolfgang Goethe-Universität ist Mitautor des Buches „Viva MTV“, das von Klaus Neumann-Braun im Suhrkamp Verlag herausgegeben wurde. Er spricht über Augenmusik, Fernsehkultur und die politsche Kraft von MTV.

taz: Die Ästhetik von MTV hat die Sehgewohnheiten von Jugendlichen verändert. Zum Guten oder zum Schlechten?

Schmidt: Sicherlich sind Videoclips ein Symptom einer schnellebigen Kultur, aber nicht die Ursache. Zunächst ist auch unbestritten, dass wir insgesamt in einer „visuellen Kultur“ leben, das heißt, dass das Bild andere Weisen der Weltwahrnehmung dominiert, und dass dies sicherlich nicht auf das Wirken eines Musiksenders wie MTV zurückzuführen ist. Trotzdem hat die MTV- oder besser: Clip-Ästhetik zunächst neue Maßstäbe für die Medienindustrie gesetzt. Nämlich, dass Songs einen begleitenden Promotion-Spot erhalten, in dem die Musik bildlich in einer bestimmten Art und Weise zu untermalen ist.

Diese Art und Weise der bildlichen Inszenierung populärer Musik, die sich durch Merkmale wie schnelle Schnitte, technische Experimentierfreudigkeit, inhaltliche Mehrdeutigkeit, häufiges Zitieren und Verflechten kulturhistorisch aufgeladener Symbolik und in vielen Fällen durch das Nichtvorhandensein von Erzählstrukturen auszeichnet, geriet zumindest in den Anfangsjahren der Musiksender in den Verdacht, Sehgewohnheiten zu verändern. Rückblickend lässt sich zweierlei sagen: Erstens konnten Vorurteile wie etwa „Clips sind sinnlose Bilderfluten“ oder Ähnliches nicht bestätigt werden; vielmehr konnte gezeigt werden, dass Videoclips durchaus regelhafte Strukturen besitzen.

Außerdem entstand mit dem Videoclip ein neues kulturelles und werbliches Genre, dessen Struktur nahezu ausschließlich auf seine besondere Funktion zurückzuführen ist, nämlich die Bebilderung und zugleich die Vermarktung von Popmusik. Clips rangieren damit in einem Nischenbereich, doch die Zuschauer wissen in der Regel, wie Clips zu lesen sind, nämlich als Augenmusik oder kleine bunte Werbung für Popsongs. Sie haben Medienkompetenz.

Aber verdummt eine Fernsehkultur à la MTV die Jugendlichen nicht?

Was heißt Fernsehkultur à la MTV? Und was soll man unter „Verdummung“ verstehen? Reduziert man Musiksender wie MTV und Viva nicht bloß auf die Ausstrahlung von Videoclips, so sieht man sich einem umfangreichen, magazinartig aufbereiteten und zum Teil exzellent recherchierten Musikprogramm gegenüber, das Informationen und Hintergründe rund um die Popmusik zu liefern vermag. Aber selbst wenn man unzulässigerweise bloß die Videoclips als Indiz für eine verdummende Fernsehkultur heranzieht, lässt sich eine solche Behauptung kaum aufrechterhalten: Zunächst sind Videoclips Gebilde, die es durchaus vermögen, den Zuschauer zu fordern. Es gibt ja nicht nur Clips, in denen die Protagonisten beim Musikmachen oder Singen zu sehen sind, sondern auch Clips, die aufgrund ihrer inhaltlichen und formalen Komplexität Sehvergnügen bereiten. Dort werden Geschichten angedeutet, verschiedene kulturelle Kontexte aufgerufen, es wird zitiert, ironisiert, persifliert. Diesem Zeichenspiel einen Sinn abzugewinnen, verlangt sowohl mediale als auch gegenstandsbezogene Kompetenz, ähnlich der Rezeption eines Kinofilms. Nicht von ungefähr befruchten sich die Arbeiten von Kino-, Werbespot- und Clipregisseuren wechselseitig, so dass Kultregisseure und Clips in Kurzfilmlänge ebenso zum popmusikalischen Kosmos gehören wie vergleichsweise konventionelle 08/15-Produktionen. Aus dieser Perspektive kann nicht von einer Verdummung, sondern vielmehr von einer Bereicherung der kulturellen und popmusikalischen Landschaft gesprochen werden.

Wie könnten Sender wie MTV oder Viva mehr zur demokratischen Bildung beitragen?

Musiksender wie MTV als Private haben natürlich keinem politischen Auftrag nachzukommen und setzen sich selbst einen solchen auch nicht. Interessant ist trotzdem, dass gerade MTV America von Beginn an bemüht war, sich als politisch korrekter Sender zu inszenieren, und auch heute noch diverse, mehr oder weniger politische Ereignisse oder Aktionen unterstützt. Dies lässt sich mit Einschränkung auf marketingstrategische Überlegungen zurückführen. Verlässt man jedoch die senderpolitische und quotenstrategische Ebene und begreift MTV als Katalysator moderner Jugendkulturen, wirft das die Frage nach dem politischen Gehalt von Jugendkulturen generell auf. Die gerade aktuelle Diskussion um den politischen oder nicht politischen Gehalt der Love Parade ist hierfür symptomatisch: Zunächst sind moderne Jugendkulturen wie etwa Techno im Gegensatz zu früheren Zeiten nicht mehr explizit widerständig und politisch, sie entfalten – wenn überhaupt – subversive Kraft durch den Rückzug ins Private. Ein Plädoyer für 24 Stunden Party und Spaß bedeutet eine Absage an die Arbeits- und Leistungsgesellschaft und die Verweigerung, sich mit politischen Inhalten zu beschäftigen, der Rückzug aus einer demokratisch-bürgerlichen Öffentlichkeit – beides immer noch Grundfesten unserer Gesellschaft. Eine solche Haltung hat John Fiske, ein amerikanischer Kulturwissenschaftler, mit der Kurzformel „Resistance through pleasure“ umschrieben.

MTV – als medienindustrielles Unternehmen abhängig von der Gunst der Zuschauer, das heißt den Jugendlichen, jungen Erwachsenen und nicht zuletzt den Entwicklungen in den jeweiligen Jugendkulturen – trägt solchen Prozessen natürlich Rechnung. Eine Chance besteht darin, dass der Politik und ihren Vertretern vermittelt wird, dass ein Besorgniserregendes Desinteresse an Politik besteht, was – auf kurz oder lang – zu notwendigen Veränderungen führen kann. Umgekehrt birgt dies natürlich ebenso die Gefahr, dass sich Politik und Alltag noch weiter voneinander entfernen.INTERVIEW: JOHANNES SEIBEL