Die Schwestern Gier und Panik im globalen Casino

BINNENWELTEN – die taz-Serie über den unsichtbaren Alltag. Teil 1: Finanzmakler Wolfgang Hein und das Innenleben der Hamburger Börse  ■ Von Peter Ahrens

Heute ist ein Zuguck-Tag. Wolfgang Hein hat es sich auf seinem Sessel bequem gemacht, die Hände über dem Bauch verschränkt und guckt zu, wie kleine grüne Quadrate über den Bildschirm wuseln. So sieht er aus wie ein zufriedener 71-jähriger Ruheständler, dessen Tag mit Zeitung holen, Fernsehen und dem Lösen von Kreuzworträtseln ausgefüllt ist. Aber manchmal bleiben die kleinen grünen Quadrate stehen, sie landen auf einer Zahl, und aus dem Ruheständler Wolfgang Hein wird augenblicklich der Börsenmakler Wolfgang Hein.

Die Zahl notieren, Telefonate führen, alles muss geschwind gehen, die Handgriffe sitzen, überlegt auch in der Schnelligkeit. Hunderttausende, Millionen von Mark rattern vorbei, doch in Hektik gerät Hein deswegen nicht. „Wenn man lange dabei ist, sieht man vieles klarer und ohne Emotion“, sagt er. Und er ist richtig lange dabei: Seit 1959 ist Hein fast Tag für Tag an der Hamburger Börse in den Räumen der Handelskammer.

Hein hat noch die Zeiten mitgemacht, als die Broker wie vom Dämon besessen die Tageskurse durch den Raum gebrüllt haben, als die Männer in den steifen Hüten und den dicken Zigarren durch den Saal flanierten, stundenlang, ohne eine Miene zu verziehen und einen Finger zu rühren und plötzlich angefangen haben zu kaufen oder Aktien abzustoßen. Die „Kulisse“ nannte man diese Männer. Die Kulisse gibt es heute nicht mehr und die schreienden Männer mit den vielen Telefonhörern am Ohr auch nicht. Es gibt wenige ruhigere Arbeitsplätze als die Hamburger Börse. „Heute wirkt es hier oft wie ausgestorben“, sagt Hein, und dass es früher „menschlich interessanter“ war und „ viel mehr Leben“ gab.

Auch wenn sich kaum noch jemand im Saal die Beine vertritt und fast die Hälfte der kleinen Büros, die direkt an den Börsensaal anschließen, heute leer steht – „das Geschäft ist heute natürlich unwahrscheinlich viel größer als früher, als hier das große Geschrei war“. Heute macht das der Computer: Der Computer ruft keine Tageskurse aus, der Computer spuckt still und gehorsam endlose Reihen von Zahlen und Kurven aus. Jeden Tag von 9 Uhr morgens bis 20 Uhr abends, nicht mehr nur zwei Stunden wie früher.

Früher gingen die Börsenmakler nach den zwei Stunden in ihre Stadtbüros, spitzten ihre Bleistifte und kurbelten ihre persönlichen Kontakte an. Die Bleistifte werden nicht mehr gebraucht, das mit den Kontakten ist aber immer noch genauso bedeutend. Beziehungen zu Kunden aufbauen, die richtigen Leute bei den Banken kennen, „unser einziger Standortvorteil heißt heute noch Kundennähe“, sagt einer von Heins Mitarbeitern.

Ansonsten ist der Standort heutzutage völlig egal, davon ist Hein überzeugt. Seit 150 Jahren wird in Hamburg an der Börse gehandelt, zuerst mit Getreide, mit Kaffee, irgendwann auch mit Wertpapieren. Inzwischen zählt nur noch, ob die Maklerfirma das Geschäft für den Kunden zur Zufriedenheit abwi-ckelt oder nicht, egal ob die in Hamburg sitzt, in Frankfurt oder in Quickborn. „Heute noch Börsenplätze zu erhalten, ist ehrenvoll, aber aussichtslos“, glaubt Hein. Selbst an der Wall Street in New York stehen Büros leer, die Makler sitzen irgendwo in der Bank oder zu Hause vorm Laptop. Was früher so großen Wert hatte, die Ohren aufzustellen und das Neueste von den Kollegen aufzuschnappen, ist auf Chipgröße zusammengeschrumpft.

Dabei sagt Hein immer noch: „Neuigkeiten sind das Wichtigste.“ Wer an der Börse glaubt, „das Gras wachsen zu hören, ist viel zu spät. Man muss dabei sein, wenn der Grassamen ausgestreut wird.“ Manchmal funktioniert das, manchmal nicht. „70 Prozent Erfahrung und Können, 30 Prozent Glück“, diese Mischung müsse ein guter Broker haben. Und man „muss unter Stress abgeklärt sein und in der Lage, auch unter höchs-tem Druck fehlerfrei zu arbeiten“.

Wer das nicht kann, der wird nicht alt. Diese „nervösen, hibbeligen Typen“, für die hat Hein nichts übrig. Denen sieht er gleich an, dass sie keine große Zukunft an der Börse haben. Das sind die, deren Nerven durchbrennen, wenn ihnen zwei, drei Geschäfte durch die Lappen gegangen sind. Das sind die, die „Geld nicht als eine abstrakte mathematische Einheit“ ansehen können, die nicht damit fertig werden, dass sie hier mit Millionen hantieren, die eben noch da sein können und im nächsten Moment schon auf ewig verschwunden. Er habe, so erzählt Hein, in Sachen Geld immer ein Doppelleben geführt. Zuhause, wo seine Frau versucht hat, beim Haushaltsgeld jede Mark einzusparen, und im Büro, wo in der einen Minute gerade mal 10.000 Mark verdient und fünf Minuten später 20.000 Mark versenkt wurden.

Versenkt ist ein gutes Stichwort, denn was da im vergangenen halben Jahr an der Börse an Werten der New Economy so abgeschossen wurde, das hat auch einer, der so lange dabei ist, bisher kaum erlebt. „Das war die absolute Extrementwicklung, zuerst im Positiven, dann zum Negativen“, sagt Hein. Vor einem Jahr noch standen sie alle auf der Matte, die ganzen Leute, die das Wort Börse bisher nur als Synonym fürs Portemonnaie kannten, und alle wollten sie Aktien haben. „Da waren viele Leute an der Börse, die da einfach nicht hingehören“, und man hört die leise Verachtung des Profis, wenn er von den Leuten redet, „die Aktien von Firmen gekauft haben und gar nicht wussten, was diese Firma überhaupt produziert“, diese Leute, „die nur Kurssteigerung wollten und zwar spätestens morgen“, die „nicht in der Lage sind, wirtschaftliche Zusammenhänge zu verstehen“. Hein spottet über die „Dienstmädchen-Hausse“ und über „das globale Casino“, zu dem sich die Börse plötzlich entwickelte. Ein Graus für einen, der sagt: „An der Börse kann man alles rational erklären.“

Die Gier war plötzlich an den Finanzplätzen zu Gast und ein halbes Jahr später ihre Schwester, die Panik. Nicht, dass ihn das noch richtig emotional umgetrieben hätte: „Nach so vielen Jahren nehmen wir das zur Kenntnis. Wir sind deswegen nicht aufgeregt.“ Hein weiß, dass es irgendwann auch mit der schlechtesten New Media-Aktie wieder aufwärts gehen kann, und das kann genauso schnell passieren wie der Absturz kam. „Es ist so wie im Leben. Wir bewegen uns immer in Wellen.“

Wolfgang Hein ist 71, er teilt die Woche ein in Kauf-Tage, Verkaufs-Tage und Zuguck-Tage, und ohne sein tägliches Wellenbad von 9 bis 20 Uhr kann er sich sein Leben nicht vorstellen. „Ich werde nie börsenmüde werden. Zu Hause sitzen und die Füße hochlegen, das werde ich nie können.“

 Am Montag Teil 2: Wohnzimmer zwischen Schalterhalle und Taxistand: Straßenkinder am Hauptbahnhof