Wie die Kids in Amerika

■ Nachrichten aus Amerika (1): Ein Besuch bei einem invertierten Wahrzeichen

Amerika – unendliche Weiten, unendliche Abenteuer. Unser Autor hat sie alle erlebt, hat sie alle gesehen und umgekehrt. Invertierte Wahrzeichen, schwule Tiger, Mama am Handy und so. Lesen Sie heute, wie alles begann.

Viele Länder haben ja Wahrzeichen, auf die sie stolz sind. In Spanien da stehen ja zum Beispiel diese schwarzen Ochsen auf den Bergen rum. Ich dachte immer, das wären so Zielscheiben für Kampfjets, bis mir mal ein Spanier gesagt hat, dass die da stehen, weil das Nationalgetränk von Spanien Ochsborne ist. Das ist ein Schnaps, und weil die Spanier den so gerne trinken, haben sie die Ochsen da in die Bergwelt reingetan.

Jedenfalls kann man die Ochsen anfassen, wenn man auf den Berg raufklettert. Den Eifelturm in Paris kann man auch anfassen. Hab ich sogar schon gemacht. Der ist nicht elektrisch geladen, wie viele behaupten, die es nicht besser wissen (ich glaube ja, die verwechseln da was). Na ja, den Zuckerhut in Rio kann man auch anfassen. Genau wie die Weser-Ems-Halle in Oldenburg und so weiter. Aber die Amerikaner mussten sich mal wieder 'ne Extrawurst braten.

Die haben ein Wahrzeichen, das sich vor allem dadurch auszeichnet, dass es gar nicht da ist. Das ist quasi ein invertiertes Wahrzeichen aus Antimaterie oder so. Man kommt dahin und denkt: Da brat mir einer einen Storch! Wo ist denn bloß die ganze Erde hin? Das nennt sich dann Grand Canyon. Kilometerlang und kilometertief ist da das Erdreich futschikato. Das sieht schon beeindruckend aus.

Ein Riesengraben.

Gar kein Vergleich mit den Gräben hier. In die fährt man schon mal mit dem Auto rein, wenn das Schützenfest besonders lustig war, und am nächsten Morgen kommt dann der Bauer mit Trecker und zieht einen wieder raus. Aber wenn man in den Grand Canyon mit dem Auto reinfährt, zieht einen kein Bauer wieder raus. Nicht weil die Bauern da nicht hilfsbereit wären. Sondern weil die einfach keine so langen Ketten oder Seile mit sich führen. Dieses Grand-Canyon-Gerät ist nämlich so irrsinnig tief, da macht ihr euch gar keine Vorstellung von. Oder doch. Stellt euch mal vor, ihr schmeißt da einen Stein rein. Dann klingelt plötzlich das Handy, und Mama aus Deutschland ist dran.

Mama will wissen, wie denn die letzten vier Wochen Urlaub waren. Und zwar nicht nur: Ja, Wetter ist toll, Essen ist gut oder so. Die will wissen, wie das Wetter an jedem einzelnen Tag war und will alle Mahlzeiten wissen.

Mit Nachtisch.

Und ob ihr Verdauungsprobleme habt. Und wie genau sich das äußert. Und ob ihr auch genug schlaft. Und wie ihr schlaft. Und ob ihr auch einen Schlafanzug anzieht. Und wie der Schlafanzug aussieht. Und welches Material der hat. Und bei wie viel Grad man den waschen kann. Und ob der sich angenehm trägt. Und so weiter. Und dann legt ihr auf und hört ganz unten aus der Schlucht ein Geräusch. Einen Schrei. Ihr habt mit eurem Stein einen Touristen getroffen (bei der Touristendichte ist es sehr schwer, daneben zu werfen).

Aber was müsst ihr auch mit Steinen um euch schmeißen. Mann, das ist echt unverantwortlich. Steine in invertierte Wahrzeichen zu schmeißen, ohne vorher mal für einen Moment in sich zu gehen und die möglichen Konsequenzen zu bedenken. Echt, wie die Kinder. Jetzt kommt ein Polizist. Der sieht gar nicht freundlich aus. Das habt ihr jetzt davon. Ja, das hättet ihr euch vorher überlegen können. Ich will nichts davon hören. Was? Angestiftet? Ich? Das ist ja lächerlich. Wenn ich sage: springt in die Weser, dann macht ihr das wohl auch. Tz. Zeigt doch mal ein bisschen Mumm und steht zu euren Taten!

Wie? Ja Officer, ich hab's genau gesehen. Der da vorne war's. Und die Dame da auch. Genau. Mit dem Stein. Ja, natürlich würde ich das auch vor Gericht beschwören. Unter Eid, selbstverständlich. Also meiner Meinung nach war das glatter Mord. Ein Glück, dass sie gerade in der Nähe waren, Officer. Sonst hätten sich die feinen Herrschaften ruckzuck aus dem Staub gemacht. Was? Ob ich die kenne? Ich bitte Sie. Nur weil ich auch aus Deutschland bin? Ich kenn doch nicht jeden Hinz und Kunz. Mit denen habe ich nichts zu tun. Übrigens, Officer, ich habe gehört, dass man hier in Amerika mit Terroristen nicht gerade zimperlich umgeht ... äh ... wie ist es denn hier in diesem Bundesstaat mit der Todesstrafe? Ach, der Stuhl. Ja. Nein, das hab ich noch nicht gesehen. Würd ich aber gerne mal. Mannomann, wie wollt ihr das bloß Mama erklären.

Tim Ingold