Nächster Start in zwölf Minuten

Verhaltenes Klatschen wandert an den Tribünen entlang. Dann herrscht Stille. Eigentümlich, wie immer wieder alles zur Ruhe kommt: Ein Abend mit Derby, falschen Gäulen und Tatar in zwei Rottönen auf der Trabrennbahn Mariendorf

Alle, die mit mir an diesem schwülen Werktag in Mariendorf aus dem Bus steigen, haben dasselbe Ziel: die Trabrennbahn. An den unbesetzten Kassenhäuschen vorbei finde ich meinen Weg durch eine Schar geschlossener Bierrondelle und leer gefegter Totobuden.

Da liegt die Trabrennbahn, ein extrem gedehntes Oval, das sich eng an den Horizont geschmiegt hat. Es gibt Applaus für die Sieger des ersten Rennens. Für den Mann auf dem Sulky, der auf der Ehrenrunde mit Zügeln und Blumenstrauß hantiert, und seinen scheuklappenbewehrten Freund, die gespitzten Pferdeohren im passgenauen Etui. Verhaltenes Klatschen wandert an den Tribünen entlang. „Nächster Start in zwölf Minuten.“ Dann herrscht Stille. Eigentümlich, wie immer wieder alles zur Ruhe kommt und in eine vorgegebene Grundposition zurückzutreten scheint. Zwillinge steigen von den Plastikstühlen, mit deren Hilfe sie über die Hecke guckten, und schlendern in verschiedene Richtungen davon.

Auf den nackten Oberkörpern herumlungernder Halbwüchsiger lässt sich die Wirkung ungehinderter Sonneneinstrahlung bestaunen. Wer jetzt keinen Hut hat, kauft sich keinen mehr – auch nicht am eigens dafür bereitgestellten Stand. Aber die ein oder andere Besucherin hat schon einen, gerne im Materialmix, zum gleichfarbigen Kleid, was zwar zueinander, aber zu nichts anderem auf der Welt zu passen scheint. Hätte ich das vogue-manual-of-style bei mir, könnte ich zweifelsfrei feststellen, ob der Besuch eines Traberderbys – im Gegensatz zum Galopprennen – eine exaltierte Behütung überhaupt nahe legt, so aber bleibt es bei der bloßen Ahnung. Den Vip-Bereich, den eigentlichen Hort der Behüteten, erreicht man über ein Kinderbrückchen. Dort hat ein Caterer seine Zelte aufgeschlagen und Tatar in zwei verschiedenen Rottönen auf Eis gelegt. Bier fließt, auch Wein, und eine Dame der Gesellschaft verlangt kurzerhand nach einem Kurzen. Die Bahn liegt da wie ein Floß in der Flaute. Nichts regt sich. Während das Flutlicht langsam in die Dämmerung diffundiert, flackern in den Logen Rennen um Rennen über die Bildschirme.

An der Strecke vertiefen sich Profis derweil in den Berliner Traberkurier und machen sich mehrfarbige Notizen. „Laguste“, lese ich, „offerierte in Recklinghausen in heutiger Hand einen flotten Lauf, welcher der Braunen die Favoritenbürde bescheren dürfte“, und setze trotzdem, nicht zum letzten Mal, auf das falsche Pferd. Die Siegquoten auf der von zwei silogroßen Schultheissdosen flankierten Anzeigentafel inmitten der Trabrennbahn haben inzwischen vor dem dunklen Nachthimmel zu leuchten begonnen und ich wünschte, ich hätte wenigstens einen dieser Wallache nicht auf der Rechnung gehabt.

Am Ende steht auf der Rückseite der Haupttribüne ein Sonderbus der BVG bereit, der mich und Menschen, die mehr verloren haben als ich, zur U-Bahn zurückbringt. Mit einem Ruck, der mehrere Bankreihen erschüttert, lässt sich ein gewichtiger Mann nieder, der schwer atmend fünfstellige Zahlen haspelt. Dann sinkt ihm der Kopf auf die Brust, vielleicht ist es der Schlaf. Die Reihen füllen sich. In dem voll gekritzelten Traberkurier blätternd, lassen still gewordene Männer die Rennen Revue passieren, ein Bündel Wettscheine noch in der Hand. Über den Tribünen beginnt ein wenig beachtetes Feuerwerk herumzublitzen. „Das letzte hat zehn Minuten gedauert“, weiß eine der wenigen Frauen auf dem Oberdeck zu berichten und spricht damit keine Hoffnung, sondern die allseits geteilte Befürchtung aus, der Bus könnte sich erst nach Abschuss der letzten Rakete in Bewegung setzen. Diesmal hat man Glück: Es ist ein kurzes Spektakel und der Bus schaukelt gemächlich dem U-Bahnhof Alt-Mariendorf entgegen. MONIKA RINCK