: Die übergroße Sehnsucht
Die Filme von Rainer Werner Fassbinder spiegelten das kollektive Unterbewusstsein der Bundesrepublik Deutschland. Seine Komödien sind bis heute das Abgefahrenste, was es im deutschen Kino gab. Jetzt kommen 15 Fassbinder-Filme mit neuen Kopien ins Kino. Eine Einladung zum Abenteuer
von OSKAR ROEHLER
Es muss so um das Jahr 1975 herum gewesen sein. Ich war in einem unspektakulären Internat der Mittelklasse in einem unspektakulären Dorf der Mittelklasse und am Anfang oder mitten in der Pubertät, sprich unsicher, unausgegoren, unglücklich und in hohem Maße unzufrieden, als ich eines Abends um acht Uhr nach diversen Stunden Studiersaal und einem dieser beschissenen Abendessen in der Kantine, wo es roten Tee aus Blechkanistern, Rollmops und Kartoffeln gab, die in riesigen Töpfen auf den Tisch geklatscht wurden, als ich einem Ereignis beiwohnen durfte, das mich geprägt hat: Im neu eröffneten Heimkino in der Aula der Schule wurden drei Filme von Rainer Werner Fassbinder hintereinander gezeigt: „Katzelmacher“, „Liebe ist kälter als der Tod“, „Händler der vier Jahreszeiten“.
Ich weiß nicht mehr, woran es lag, ich kann mich jetzt auch nicht an bestimmte Szenen und Einstellungen erinnern, aber ich bin aus diesen drei Filmen mit einem Taumel im Kopf entlassen worden, der lange nicht nachließ. Die Grundstimmung dieser Filme hatte etwas sehr Zwingendes. Sie handelten von Antihelden am Rande der Gesellschaft, in deren Leben es immer enger wurde. Sie handelten von einer engen, kleinbürgerlichen Gesellschaft, in der es keinen Raum für Randexistenzen gab. Aber sie wurden nicht von der Gesellschaft vernichtet, sie hatten selbst langsam die Einsicht, sie vernichteten sich selbst. Und dieser Prozess wurde unerbittlich dokumentiert, in einer sehr einfachen, spröden Filmsprache, in einem extremen Minimalismus. Die Filme, ich sah dann in kurzer Zeit sehr viele Filme von ihm, hinterließen ein Gefühl der Traurigkeit, was vielleicht daher rührte, dass man Mitgefühl mit diesen Figuren entwickeln konnte, ja dass, wie abwegig auch immer ihre Sehnsüchte und Beweggründe sein mochten, man immer einen Teil von sich selbst darin wiederfand, vielleicht einen dunklen, unerschlossenen Teil der eigenen Seele. Diese Filme waren ein Spiegel der Seele und des kollektiven Unterbewussten dieser kleinen, auf Sicherheit bedachten Gesellschaft namens Bundesrepublik Deutschland.
Und aus diesen Figuren heraus, aus ihrer Melancholie, ihrem Wahnsinn, ihrem Unglück und ihren Bedenken konnte man die leise Stimme des Autors heraushören, die bedachtsam sprach, während sie noch nachdachte und die Gedanken weitergesponnen wurden. Der beeindruckendste Film der deutschen Nachkriegsgeschichte ist ein relativ später Film von Fassbinder. Er hat den magischen Titel: „In einem Jahr mit 13 Monden“. Wenn man da noch keine Gänsehaut bekommen hat, dann bekommt man sie spätestens bei dem Vorspanntext, der über den ersten Bildern des Films liegt, einer abgefuckten Frankfurter Parklandschaft im Morgengrauen, in der die Hauptfigur des Films, ein Transsexueller in Strapsen und Frauenkleidern, von ein paar Strichern zusammengetreten wird.
Fassbinder entwirft ein düsteres Szenario voller Poesie, wie der Film überhaupt tief aus der Sprache und den poetischen Möglichkeiten der Sprache zu kommen scheint.
Aus dem Gedächtnis fallen mir hier viele Bilder ein: Volker Spengler, wie er, nachdem sein Freund ihn verlassen hat, in einem anonymen Spielsalon in der City steht, einsam vor einem Flipperautomaten, während im Hintergrund ein Song von Roxy Music läuft und ihm die Tränen über das geschminkte Gesicht laufen. Später, irgendwo, in einem dieser anonymen Räume, aus dem das grausame, beziehungslose Universum des Films besteht, redet ein drogensüchtiger Bodybuilder, dessen Gesicht man nie sieht, über Freundschaften. Auf einem Fernseher brennen Kerzen runter, jemand bewegt eine Hantel im Hintergrund: Er habe, heißt es da, von einem Friedhof geträumt, und er habe sich gewundert, warum die Zeitspanne zwischen Geburt und Tod auf den Grabsteinen nur so kurz sei. Die meisten umfassten nur ein halbes Jahr, manche ein Dreivierteljahr, manche nur wenige Monate. Bis ihm dann jemand gesagt habe, dass dies nicht die Lebenszeiten der betroffenen Personen seien, sondern nur die Dauer ihrer Freundschaften. Die Stimme dieses anonymen Sprechers in der Szene ist die von Fassbinder, die Kamera wird in diesem Film ebenfalls von ihm geführt. Der Film ist nach einer zehnseitigen Erzählung von Fassbinder von ihm selbst gedreht worden. Er trägt in nahezu jeder Funktion die Handschrift des Autors.
Dieser Film hatte eine große, nachhaltige Wirkung auf mich. Ich habe immer wieder an ihn gedacht. Ich habe seine Stimme immer wieder im Ohr gehabt. Und manchmal bin ich beim Schreiben in den Tenor dieser Stimme verfallen, weil sie mir so nahe war, sich mir so eingeprägt hat. Auch der Hintergrund der Geschichte ist faszinierend: Vor langer Zeit begegnet die Hauptfigur des Films in einem Lokal einem Mann, in den er sich vom ersten Augenblick an unsterblich verliebt. Er weiß, er wird alles für ihn tun – und als würde der Mann ahnen, dass das so ist, macht er irgendwann später im Verlauf des Gesprächs so eine hingeworfene Bemerkung: „Ja, wenn du eine Frau wärst, dann könntest du mir gefallen.“ Worauf die Hauptfigur des Films das Gesagte für bare Münze nimmt und sich einer Geschlechtsumwandlung unterzieht.
Das alles ist lange her, wenn der Film beginnt. Der Mann ist längst, wahrscheinlich Stunden später, aus dem Leben der Hauptfigur verschwunden, er ist längst zu einer Legende der Stadt, zu einem der reichsten Makler des Landes geworden, unerreichbar für unsere Hauptfigur, die in den Frankfurter Parks aus Einsamkeit mit dem Bodensatz der Gesellschaft zu tun hat und deren Leben durch den Eingriff verpfuscht ist. Man könnte Fassbinder fast unterstellen, dass die Moral der Parabel darin besteht, dass jene, die eine übergroße Sehnsucht haben, an der Gesellschaft leiden, an ihrem Geiz, an ihrer Kleinlichkeit zu Grunde gehen müssen. Dass die schönsten Seelen und die empfindsamsten Geister dazu verdammt sind, unterzugehen in einer Gesellschaft, die noch immer von Schuldkomplexen und Neid beherrscht ist.
Wie andere Filme von Fassbinder liegt „In einem Jahr mit 13 Monden“ nah an den Parabeln und Romanen von Kafka, vom Landvermesser, der das Schloss nie erreicht, von Franz K., dessen letzter Gedanke lautet: „. . . wie ein Hund, wie ein Hund. Es war, als sollte die Scham ihn überleben.“
Ich möchte, da es sich ja um einen Text über eine Retrospektive des Werks handelt, nicht vergessen zu sagen, dass Fassbinders Komödien das Abgefahrenste und Beste waren, was es an deutschen Komödien gab. Egal ob „Satansbraten“ oder „Warnung vor einer heiligen Nutte“ – diese Filme wirkten und waren immer ein bisschen aus der Hüfte geschossen, launisch porträtierten sie die intellektuellen Eitelkeiten bestimmter Leute im direkten Umfeld, so dass es immer sehr persönliche, fast Insiderfilme waren über Persönlichkeiten, die einfach ungewöhnlich schillernd, exzentrisch und extravagant waren.
Ich weiß nicht, wie lange man es durchhält, seinen Erfolg zu haben und dennoch ganz dicht an seinen eigenen Stoffen zu bleiben, ich weiß nicht, wie lange er es durchgehalten hätte, wenn er nicht im Alter von 37 Jahren gestorben wäre, nicht ohne – ich glaube – mindestens 45 Filme hinterlassen zu haben, von denen mindestens fünf zu meinen zehn deutschen Nachkriegs-Lieblingsfilmen gehören, nämlich: „In einem Jahr mit 13 Monden“, „Satansbraten“, „Angst essen Seele auf“, „Warnung vor einer heiligen Nutte“, „Martha“ . . .
Filme von Fassbinder sind persönliche Keimzellen gesellschaftlicher Relevanz. Da passiert etwas ganz Kleines, irgendwo, in einer Kneipe, wo jeder von uns normalerweise vorbeigeht – eine alte Putzfrau wird von einem marokkanischen Gastarbeiter, der 30 Jahre jünger ist, zum Tanzen aufgefordert. Eine kleine Begebenheit, aber was für eine große Prämisse, wenn man bedenkt, wie Fassbinder mit wenigen Strichen die Gesellschaft zeichnet durch ein paar Nebenfiguren, Mieterinnen im Gang, Kaufmann um die Ecke, alle von einer ins Märchenhafte überzeichneten Bösartigkeit . . .
Diese Filme sind groß von ihrer Wirkung her und klein von ihrem Aufwand und ihrer Herstellung. Man redet oft über gesellschaftliche Relevanz und vermisst sie in heutigen Filmen, aber auch früher gab es die langweiligen Politologenfilme oder Literaturverfilmerfilme en masse. Es gibt eben wenige, die den Kern einer Gesellschaft persönlich erfühlen können, dabei so enorm kreativ sind und noch dazu einen so breiten Einfluss auf so viele Leute in so kurzer Zeit entwickeln – und diese Leute nennt man halt Genies.
Fassbinders ehemaliger Regieassistent, der Schauspieler Harry Bär, hat mir mal auf meine Frage geantwortet, wie es Fassbinder möglich war, in den Hochperioden seiner Arbeit an drei Filmen gleichzeitig zu drehen. Harry sagte: Er musste nicht körperlich da sein. Sein Geist war da. Er war unter uns. Wir wussten genau, was er wollte.
Eines kann ich versprechen, was die Retrospektive angeht: Es wird ein Abenteuer sein, sich möglichst viele Filme anzusehen. Sie zeigen dicht gedrängt in der kurzen Schaffensperiode ein sehr existenzielles Bild des Lebens in den Sechziger- und Siebzigerjahren – und sie sind gleichzeitig wie Märchen und Erzählungen, in die man einen Moment abtauchen kann, um vor der Welt zu flüchten.
Oskar Roehler ist Regisseur und Autor, unter anderem der Filme „Silvester Countdown“, „Gierig“ und „Die Unberührbare“, für den er im vergangenen Jahr den Deutschen Filmpreis bekam
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