„. . . damit das Gehirn nicht spritzt“

Die Tage nach der Eroberung von Srebrenica: Was Zeugen vor dem Haager Tribunal aussagten

BERLIN taz ■ Als bosnisch-serbische Soldaten auf die UN-Schutzzone Srebrenica vorrückten, floh die Muslimin Camila Omanović mit ihrem Mann, ihren beiden Kindern im Alter von 17 und 13 Jahren und ihrem drei Monate alten Enkelkind in Richung Potocari, wo sich die Basis der niederländischen Blauhelme befand. Ihr Mann schlug sich, wie viele andere, in die Wälder; sie hat ihn nie wiedergesehen. Vor dem UNO-Tribunal in Den Haag berichtet die 1953 geborene Zeugin unter anderem von der Nacht des 12./13. Juli, die sie mit ihren Angehörigen auf dem Platz in Potocari verbrachte, wo die Busse zum Abstransport der Bevölkerung bereitstanden.

„Während des Abends und in der Nacht gingen serbische Soldaten und serbische Bevölkerung zwischen den Bussen und Lastwagen hin und her, gingen nach Srebrenica und kamen wieder zurück. Die serbischen Soldaten kamen mit Taschenlampen zu uns. Sie wählten Leute aus, Individuen, und brachten sie weg, und dann hörten wir hinter den Bussen Schreie. Eine Frau bekam ein Kind. Sie schrie. Sie hatte niemanden, der ihr helfen konnte. [...]

Die Nacht war sehr, sehr ruhig und einige Leute fingen an, einzuschlafen. Aber aus einem nahe gelegenen Schlachthof hörten wir plötzlich die Stimme eines Mannes, die sich wie die von Fikret Hodzić anhörte, den wir alle sehr gut kannten, und es klang, als würde er gefoltert. Er rief „Nesib, Nesib!“. Dann fingen alle anderen an zu weinen und zu schreien und dann hörte alles wieder auf. Wir hatten keine Gelegenheit, einzuschlafen oder ruhig zu bleiben, weil die Schreie immer wieder anfingen. Es war eine Nacht des Horrors. [...]

Die ganze Zeit, in der wir in dem Lager waren, haben wir uns gefragt, wer der nächste sein würde, der getötet oder weggebracht würde. Wir warteten nur darauf, dass das passiert. Und das ist es, warum die Leute es so eilig hatten. Die Leute wollten so schnell wie möglich weg. Sie verloren die Geduld. Sie wollten, dass etwas passiert. Sie konnten die Ungewissheit nicht ertragen. [...]

Mein Sohn ging Wasser holen, und er sah fünf oder sechs Körper, die in der Nähe des Flussufers niedergemetzelt worden waren. Danach hat er mich nicht mehr verlassen. Er hat nicht mehr darüber gesprochen, aber er wollte bei mir bleiben, nachdem er diese schreckliche Szene gesehen hatte.“

Da Camila Omanović persönlich bedroht worden war, setzte sie am folgenden Tag Kinder und Enkel auf einen Lastwagen zur Evakuierung, blieb aber selbst zurück, um deren Leben nicht zu gefährden. Sie schlich sich auf das UNO-Gelände und unternahm einen Selbstmordversuch, wurde aber gerettet.

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Der Zeuge „Q“ ist ein heute 29 Jahre alter Muslim aus Srebrenica. Nach der Trennung von Männern und Frauen bei der Evakuierung aus der Enklave Srebrenica wurde er zunächst mit anderen in eine Schule gebracht und dann, am Morgen des 16. Juli, zum Exekutionsplatz gefahren. Er schildert, was er dort erlebte:

„Da war eine Gruppe serbischer Soldaten. Sie standen in einer Reihe und schossen auf uns mit automatischen Gewehren und Maschinengewehren. Als sie das Feuer eröffneten, warf ich mich auf den Boden. Meine Hände waren noch hinter meinem Rücken gefesselt und ich fiel mit dem Gesicht nach unten auf den Bauch. Ein Mann fiel auf meinen Kopf. Ich glaube, dass er auf der Stelle tot war. Und ich konnte fühlen, wie das heiße Blut über mich lief.

Das Schießen ging weiter und sie befahlen den Soldaten, die Leute einzeln zu erschießen. Und ich konnte eine Stimme sagen hören, sie sollten die Leute nicht in den Kopf schießen, damit das Gehirn nicht herausspritzt, sondern lieber in den Rücken. Sie schossen auf meinen Rücken. Meine Hände waren auf meinem Rücken gefesselt, aber eine Patrone ging unter meiner linken Achsel durch mein Hemd, sie streifte mich nur. Und ich blieb da liegen. Sie sagten, dass sie (die Verletzten, d. Red.) verbunden würden. Einige Leute meldeten sich und wurden getötet.

Ich konnte einen Mann um Hilfe rufen hören. Er bettelte sie an, ihn zu töten. Und sie sagten nur: „Lass ihn leiden. Wir töten ihn später.“ An diesem Tag brachten sie weitere Gruppen von Leuten, auch am Nachmittag, vielleicht vier Stunden lang.“

Zeuge „Q“ stellte sich tot und konnte später fliehen.