„Wir haben riesiges Glück gehabt“

Das Hochwasser an der Oder in Brandenburg steigt und steigt, aber in diesem Jahr dürfte es glimpflich enden. Die Ratzdorfer sind trotzdem sauer: Ihr neuer Schutzdeich an der Mündung der Neiße ist noch nicht fertig. Ein Landbesitzer weigert sich, sein Grundstück für den Damm herzugeben

aus Ratzdorf RICHARD ROTHER

Jaqueline Budras schaut auf den Strom. Die Haut auf ihrer Stirn kräuselt sich wie das Wasser, das stündlich ihrem Garten näher kommt. Ein paar Meter Entfernung sind es noch, fast schon schwappt die Oder an den Maschendrahtzaun. Stiege das Wasser nur einen halben Meter, könnte die geschäftige Frau ihre Wäsche nicht mehr trockenen Fußes aufhängen. Budras’ Blick fällt auf eine steinerne Pyramide im Fluss, die längst von der schnellen Stömung umspült wird: auf der Spitze ein Häuschen mit der elektronischen Pegelanzeige. 4,88 Meter verkünden die rot leuchtenden Dioden. Ein kurzes, kaum merkliches Blinken – die Anzeige schaltet auf 4,89 Meter. Eine Schönwetterwolke streift die Mittagsonne, und über Budras’ Gesicht huscht ein Schatten.

Genauso habe es vor vier Jahren angefangen, sagt Budras. Während der Jahrhundertflut erreichte der Pegel in Ratzdorf einen Stand von 6,89 Meter. Budras Haus stand wochenlang unter Wasser. Bei Ratzdorf fließen Oder und Neiße zusammen. „Oder-Neiße-Friedensgrenze“ hieß früher die vom Wasser markierte Linie, die die DDR von Polen trennte.

Das war schon damals gelogen, und auch heute blickt Budras nicht wirklich friedlich gen Osten. Vor vier Jahren habe es zu Beginn der Flut auch geheißen, dass alles nicht so schlimm kommen werde, sagt die eher wortkarge Brandenburgerin. „Und dann?“

Zur Zeit steht die Oder in Ratzdorf rund zwei Meter über normal. Bis zum Wochenende dürfte das Wasser noch einmal um 35 Zentimeter steigen, dann langsam zurückgehen. Noch gilt die Warnstufe I, das bedeutet keine akute Gefahr. Ob das so bleibt, weiß niemand so genau. In den vergangenen Tagen hatte es wieder Regenfälle im Einzugsgebiet der Flüsse gegeben.

Eines aber wissen die Ratzdorfer ganz genau: „Wir haben riesiges Glück gehabt“, sagt Bürgermeisterin Ute Petzel. Hätte das Regentief, das für die verheerenden Überschwemmungen an der Weichsel sorgte, nur hundert Kilometer weiter westlich – und damit im Odergebiet – gelegen, wäre es in Ratzdorf zur Katastrophe gekommen. „Schlimmer als vor vier Jahren.“

Zumal der Deichbau ins Stocken geraten ist. Seit der letzten Hochwasserkatastrophe wurden an der Oder zwar rund 150 Millionen Mark in Sanierung und Neubau von Schutzdämmen gesteckt, finanziert in erster Linie von Berlin und Brüssel – zwei im Brandenburgischen nicht sonderlich beliebte Kapitalen. Wenn alles fertig ist, werden mehr als 300 Millionen Mark verbuddelt worden sein.

Das aber kann dauern – zumindest in Ratzdorf. Eigentlich sollte bereits in diesem Jahr die 1.100 Meter lange Deichlücke zwischen Neiße und Oder geschlossen werden. Die Bagger standen schon bereit, und auch auf Ratzdorfer Brachen künden riesige Erdwälle von den bevorstehenden Bauarbeiten. Aber Ratzdorfer und das Potsdamer Landesumweltamt haben die Rechnung ohne uneinsichtige Landeigner gemacht. Die wollten ihre Grundstücke nicht hergeben, auf denen der neue Deich errichtet wird. Jedenfalls nicht zu dem von den Behörden angebotenen Preisen. Besonders hartnäckig ist Torsten Sch. – die Ratzdorfer Persona non grata hat ihr Okay immer noch nicht gegeben.

„Das ist eine Schande“, sagt Reinhard Gronenberg. Der Mittfünfziger harkt Heu auf dem Deich am Dorfrand: eine Arbeitsbeschaffungmaßnahme, die mit dem Deichbau an sich nichts zu tun hat. Gronenberg zeigt auf die Oder. „Für das Land da will der 20 Mark den Quadramter haben.“ Üblich sei weniger als eine Mark pro Quadratmeter. Von Land kann allerdings keine Rede sein – die Flusswiese ist überschwemmt – und Gronenberg stünde das Wasser bis zu Hals, wollte er das künftige Deichbaugelände inspizieren.

Mittlerweile zeichne sich aber eine Einigung ab, sagt der Leiter des Umweltamtes, Matthias Freude. Der Eigentümer habe Gesprächsbereitschaft signalisiert, und vielleicht könnte im nächsten Jahr mit dem Deichbau begonnen werden.

Die Dorfbewohner kann Torsten Sch., der nicht in Ratzdorf lebt, damit aber nicht beruhigen. Der wollte nur den Preis hoch treiben, heißt es. Außerdem verdiene er an jeder Verzögerung des Deichbaus, weil ein Teil des Baumaterials auf dessen Grundstück lagere. Die Behörden zahlen dafür Miete.

Überhaupt führt das Hochwasser nicht nur allerlei Strandgut mit sich, sondern auch Neid und Missgunst. Der unschöne Poker um die Flussauen ist dabei Sinnbild – aber längst nicht alles. Denn mit dem Hochwasser lässt sich in der strukturschwachen Region durchaus Geld verdienen. Seit den ersten Hochwassermeldungen kommen immer mehr Tagestouristen und Schaulustige in das verlassene Dorf, rennen unter anderem der Gaststätte „Zum Oderblick“ die Türen ein. „Ich will nicht wissen, was die jetzt für ein Umsatz macht“, sagt einer aus dem Dorf.

Das will auch die Inhaberin der Kneipe nicht wissen, zumindest nicht verraten. Ein bisschen mehr sei es schon, antwortet die Wirtsfrau gereizt. „Aber nicht, dass Sie denken, ich bin jetzt Millionär.“ Das kann man getrost glauben, in der Wirtschaft gibt es regionale Spezialitäten zu günstigen Preisen: zum Beispiel eine Brühpolnische für 4,50 Mark, eine Bockwurst für 2,50, ein Glas Fassbrause für 1,50.

Eine schwedische Fahrradtouristin fragt schüchtern in holprigem Deutsch, was eine Oderwelle sei. Die Wirtin grinst: „Das ist die Schwester von der Donauwelle.“ Die Touristin verdreht die Augen, versteht die Welt nicht mehr. Wie Jaqueline Budras, die immer wieder über den Fluss gen Polen schaut. Auf den schönen Blick würde sie gern verzichten – zugunsten eines festen Deiches.