Das 777-Billionen-Dollar-Ding

„Wir reden beim afrikanischen Holocaust von 210 Millionen Menschen “

von HAKEEM JIMO (Accra)und DOMINIC JOHNSON

Nii Lantey würde sich selber nicht als schizophren bezeichnen. Einerseits ist der Ghanaer Mitherausgeber des wöchentlichen Schmuddelblatts Love and Life, das aufs Titelblatt Geschichten nimmt wie „Mann, 61, schlägt seine Frau wegen Sex-Verweigerung tot – vier Jahre Knast“. Andererseits hat er unter der Schirmherrschaft der Zeitschrift eine Arbeitsgruppe für afrikanisches Bewusstsein gegründet. „So ist halt die Öffentlichkeitsarbeit hier in Ghana“, sagt der Mittzwanziger. „Man muss schon etwas reißerischer mit den Schlagzeilen sein – erst dann hat man Chancen, auch andere Inhalte zu vermitteln.“

Andere Inhalte sind für Lantey zum Beispiel die Forderung nach Entschädigung für Afrika von den Ländern, die jahrhundertelang mit dem Sklavenhandel zwischen Afrika, Europa und Amerika ihre Geschäfte machten und dann Afrika kolonisierten. Der Wunsch nach Reparationen für Sklaverei und Kolonialismus dominiert die Vorverhandlungen zur UN-Antirassismuskonferenz, die in einem Monat in Südafrika stattfindet: Die USA drohen mit Boykott, sollte die Reparationsforderung auf die offizielle UN-Tagesordnung kommen.

Lanteys „African Conscious Club“ arbeitet zusammen mit der „African World Reparations and Repatriation Truth Commission“ (AWRRTC), die das Reparationsthema in Afrika vorantreibt. Vorsitzender dieser Organisation ist der schwarze US-Amerikaner Hamet Maulana, der seit fast zwanzig Jahren in Westafrika lebt und sich in Ghanas Hauptstadt Accra niedergelassen hat.

Bei einer Veranstaltung in Ghana schleudert Maulana seine Tiraden einem Publikum aus 30 Leuten entgegen, während vor der Tür des Raums eine mehrere hundert Mitglieder starke Hochzeitsgemeinde feiert. Es sei Schwachsinn, dass Jesus weiß sei, erklärt Maulana; so stünde es nicht mal in der Bibel. Die schwarze Rasse, die das alte Ägypten gegründet und aufgebaut habe, werde seit rund 6.000 Jahren von der arischen, weißen Rasse zusammmen mit den Arabern verfolgt und habe die Errungenschaften der Afrikaner gestohlen. Aber eigentlich wolle er über die Reparationszahlungen für den „schwarzen Holocaust“ reden. Angeklagt sind die USA, Kanada, Großbritannien, Frankreich, Portugal, Spanien, Italien, Niederlande, Dänemark, Belgien und nicht zuletzt Deutschland.

Die AWRRTC ist nicht die einzige Organisation, die sich dafür einsetzt, aber auf dem afrikanischen Kontinent konnte sie sich an die Spitze der Bewegung setzen. Seine studentischen Mitarbeiter nennen den AWRRTC-Chef „Pa Maulana“, ein Ausdruck von Respekt. Während der ersten internationalen Konferenz seiner Organisation 1999 in Accra errechneten Teilnehmer aus Afrika und der afrikanischen Diaspora zusammen mit offiziellen Vertretern aus 17 Staaten – darunter auch Regierungsvertreter aus Namibia, die vom Bemühen berichten, Deutschland für die Kolonialverbrechen am Herero-Volk haftbar zu machen – Reparationsforderungen in Höhe von 777 Billionen (nicht Milliarden) US-Dollar.

„Deutschland bringt mehrere Milliarden Mark für die Zwangsarbeiter auf, die weniger als zehn Jahre für das Unrechtsregime schufteten und starben“, rechtfertigt Maulana den Anspruch auf eine Summe, die 26 mal so hoch ist wie das derzeitige Bruttosozialprodukt der ganzen Welt. „Wir reden beim afrikanischen Holocaust von mindestens 210 Millionen Menschen in einer Zeitspanne von über 400 Jahren.“ Die Forderung nach Reparationen für den Sklavenhandel, der viele Millionen Opfer forderte, erfreut sich in Afrika auch unter Regierungen grundsätzlicher Zustimmung. Der verstorbene nigerianische Multimillionär und verhinderte Präsident Moshood Abiola begann die Debatte 1990 mit einer Konferenz in Nigeria. Danach griff die Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) das Thema auf.

1993 beschloss ein OAU-Sondergipfel eine zweideutige Resolution zum Thema: Sie „ruft die internationale Gemeinschaft auf anzuerkennen, dass den afrikanischen Völkern eine einmalige und beispiellose moralische Schuld aussteht, die noch bezahlt werden muss – die Schuld von Entschädigung an die Afrikaner als das am meisten erniedrigte und ausgebeutete Volk der letzten vier Jahrhunderte“. Dabei ging es offenbar weniger um Geld als um Anerkennung einer historischen Verantwortung. Der Ruf nach Reparationen, so die OAU, sei für Afrikaner weltweit „ein Lernprozess in Selbstfindung und in der Zusammenführung von politischen und psychologischen Erfahrungen“.

Inzwischen schicken Staaten in Afrika und in Ländern, in denen die afrikanische Diaspora die Stärke zur Regierungsbeteiligung hat, regelmäßig offizielle Vertreter zu Reparationskonferenzen. Populär ist auch die Forderung nach Rückkehr der Nachkommen ehemaliger Sklaven. Die Regierungen unter anderem von Äthiopien und Benin sowie traditionelle Führer in Ghana stellen Land für afrikanische Rückkehrer aus Übersee zur Verfügung. In Ghana verabschiedete das Parlament ein Gesetz, das für Afrikaner aus Übersee die Niederlassung vereinfacht. Ghana ist beliebtes Reiseziel für US-Schwarze, die hier die Reste der Kolonialfestungen besuchen, aus denen einst Sklaven exportiert wurden. In Benin hat sich eine Gruppe junger Anwälte zusammengetan, um zu überlegen, wie die Reparationsforderung vor Gericht gestellt werden könnte.

Die Weiterentwicklung des Völkerrechts und der juristischen Vergangenheitsbewältigung weltweit in den letzten Jahren hat Bestrebungen nach Entschädigung für Sklaverei Auftrieb gegeben und auch die Verbrechen der Kolonialzeit auf die Tagesordnung gesetzt. Denn wenn es Entschädigung für NS-Zwangsarbeiter und Wiedergutmachungszahlungen an Juden durch Schweizer Banken gibt, so die Überlegung, kann man das den Opfern der Kolonialherrschaft, die zur gleichen Zeit stattfand, nicht verwehren. Wenn die türkischen Massaker an Armeniern 1915 in den USA und Frankreich als Völkermord anerkannt werden, gebührt der Auslöschung der Hereros im heutigen Namibia durch die deutschen Kolonisatoren 1904 der gleiche Status – Entschädigungen dafür lehnt Deutschland bis heute ab. Die Diskussionen in Frankreich um Kriegsverbrechen in Algerien oder in Belgien um die blutige Entkolonisierung des Kongo haben die Verbrechen der Kolonialzeit ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit gerückt.

Vieles hängt von Entwicklungen in den USA ab. Dort werden zur Stunde Sammelklagen vorbereitet, um die Forderung nach Reparationen vor Gericht klären zu lassen. Schwarze Topanwälte wie Johnny Cochrane, einst Verteidiger von O. J.Simpson, hoffen auf Bewusstseinswandel bei den Richtern der USA. 1915 wurde eine Klage, die von der US-Regierung 68 Millionen Dollar Entschädigung für die staatlichen Einnahmen aus der Sklavenarbeit auf US-Baumwollplantagen forderte, noch abgewiesen – unter der abwegigen Begründung, die US-Regierung könne nicht gegen ihren eigenen Willen verklagt werden.

Reparationen für Nachkommen von Sklaven in den USA forderte schon 1963 Martin Luther King. Heute hat sich die führende afroamerikanische Organisation TransAfrica, deren Führer Randall Robinson im letzten US-Wahlkampf den Grünen Ralph Nader unterstützte, der Sache angenommen und bereitet jetzt die Sammelklage mit vor. Auch schwarze fundamentalistische Kirchen in den USA verbreiten die Reparationsforderung unter ihren Anhängern – zuweilen mit Geschäftssinn: Gebt uns 50 Dollar, forderte ein Prediger seine Gemeindemitglieder auf, und irgendwann kriegt ihr vom Staat 500.000 Dollar zurück.

Letztendlich erwartet auch Hamet Maulana, dass sich der Streit über Reparation in die Gerichtssäle verlagern wird. Deshalb taten sich schon bei der AWRRTC-Konferenz von 1999 Rechtsanwälte aus verschiedenen Ländern zusammen. Ende dieses Jahres erwartet Maulana erste Ergebnisse von seinem Juristenteam; es soll dann gemeinsam mit den US-Juristen arbeiten. Sollte die UN-Konferenz in Durban die historische Verantwortung der einstigen Kolonialmächte und Sklavenhandelsnationen anerkennen, so das Kalkül der Reparationsinitiativen, wäre die Basis für Entschädigungsprozesse geschaffen. „Wir müssen den optimalen Zeitpunkt abwarten“, sagt der AWRRTC-Chef. „Denn wir wissen, dass wir vielleicht nur einen Pfeil im Köcher haben. Aber die Voraussetzungen sind günstig wie nie.“