„Ksch! Ksch!“

Oh doch, es gibt sie: Tiere, die man nicht mag. Schon gar nicht in den eigenen vier Wänden. Zum Beispiel die gemeine Straßentaube

von REINHARD KRAUSE

Hinter der Milchglasscheibe meines Badezimmerfensters flatterte es plötzlich auf. Flügel klatschte hektisch gegen Flügel. Oh nein, eine Taube in der Wohnung – grässlich! Das hatte mir Hans Scharoun eingebrockt und niemand anderes. Als der nämlich 1928 das Apartmenthaus entwarf, in dem ich seit zwei Jahren wohne, war der spätere Erbauer der Berliner Philharmonie schon ein gefragter Architekt – so gefragt, dass er nur die Aufgabe übernahm, die schicke Fassade der einen halben Wohnblock umfassenden Anlage zu entwerfen. Um den Kleinkram, wie den Schnitt der Wohnungen, musste sich anschließend ein anderer verdient machen. So kommt es, dass das Haus von außen ein schönes Beispiel ist für die weiße Moderne und innen ein schönes Beispiel für Unsinn am Bau.

Mein Badezimmer etwa – um nur die Absurdität zu benennen, die hier interessieren soll – besitzt zwar ein hoch gelegenes Fenster, aber das führt nicht unmittelbar nach draußen, sondern zunächst in einen Hohlraum oberhalb einer Nische des Wohnraums. An der Rückseite des Fensters ist eine lange Metallstange befestigt, die bewirkt, dass sich beim Öffnen des Fensters auch das Außenfenster am anderen Ende des Hohlraums einen Spalt weit auftut. Klingt kompliziert, aber Hauptsache ist, man kann lüften. Und in diesem nicht eben kleinen Lüftungsraum saß nun also eine Taube und klapperte mit den Flügeln.

Wissen Sie was: Ich mag keine Tauben. Alle anderen Vögel schon. Amsel, Hansi, Fink und Star? Super! Aber Tauben? No! Können Tiere gesund sein, die massenhaft auf verkrüppelten und entzündeten Füßen, ach was, Klauenklumpen durchs Leben humpeln? Woher stammen diese ganzen Deformierierungen eigentlich? Von Radfahrern oder gar eiligen Passanten, die den sich komplett feindlos wähnenden Stadttauben alle Naslang über die Krallen brettern? Und was ist davon zu halten, wenn Vögel aussehen, als seien sie von ganzjähriger, lebenslanger Mauser geplagt? Nichts Gutes doch wohl!

Die Taube im Schacht – ein Horror. Denn, wie gesagt: Beide Badezimmerfenster lassen sich nur gemeinsam öffnen. Entweder also würde der Vogel in die Freiheit entweichen oder vollends in die Wohnung. In meiner Not fuchtelte ich mit einem Besenstiel durch den Fensterschlitz. Vielleicht würde das Tier ja in Panik das Weite suchen. Und so kam es auch. Nach neuem wildem Geflatter war plötzlich Ruhe. Gott sei Dank! Jetzt hieß es allerdings, das Badfenster für einige Zeit geschlossen zu halten. Die trübe Aussicht, ein, zwei Wochen nicht lüften zu können, wurde durch die Erleichterung aufgehellt, die Taubenattacke so schnell abgewehrt zu haben.

Zwei Tage später vernahm ich beim Frühstück ganz nah das feine Getrappel von Vogelfüßen. Aha, die Taube will ins alte Domizil zurück. Hähä! Schadenfroh stürmte ich auf den Balkon, um die Vertriebene vor dem verschlossenen Fenster hocken zu sehen. Aber da saß nichts. Ob ich schon Gespenster hörte? Da war doch etwas! Ich begann, mich unwohl zu fühlen. Und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Die Taube war noch immer da – seit zwei Tagen von mir gefangengehalten! Wo hatte sie sich versteckt?

Ich schnappte mir den Sprühkopf vom Fensterreiniger, stellte ihn auf starken Strahl und schraubte ihn auf eine Wasserflasche. Und dann spritzte ich in hohem Bogen in die einzige Ecke des Lüftungsschachts, die ich vom Bad aus nicht einsehen konnte. Und tatsächlich, da hatte der Feind gesessen. Doch statt zum Fenster hinaus flog er in meine Richtung. Iiih! Und dann war er jählings verschwunden. Wie weggezaubert. Mir blieb nichts anderes übrig, als meinen Kopf vorsichtig und angewidert in den Hohlraum zu stecken. Vom Tier keine Spur. Und doch fand ich des Rätsels Lösung: Oberhalb des inneren Fensters war noch ein weiterer, niedriger Hohlraum eingelassen, womöglich für die Elektrik des Badezimmers. Der Lüftungsschacht als idealer Taubenschlag!

Jetzt musste die Hausmeisterin ran. Denn die Vorstellung, in den Schacht zu klettern, die Taube mit herzhaftem „Ksch! Ksch!“ aufzuscheuchen und dazu zu veranlassen, bitte schön hinter mir aus dem Außenfenster zu türmen, war mir der blanke Horror. Der Hausmeisterin allerdings auch. Oh nein, dröhnte es aus dem Hörer, dafür sei sie ja nun gar nicht zuständig, ich möge doch bitte einen Kammerjäger bestellen, der Hauseigentümer würde gewiss für die Kosten aufkommen, auf Wiederhören.

Hätten Sie gedacht, dass es allein in den Berliner Gelben Seiten 53 Einträge von Schädlingsbekämpfern gibt? Meine Wahl fiel auf eine überaus seriös klingende Organisation für Schädlingsbekämpfung, „Diskretion garantiert“. Ein Herr Bitter ging an den Apparat und gab freundlicherweise eine Ferndiagnose. Ein Taubenabwehrnetz müsse her, sonst sei die Taube schnurstracks wieder da. Vier Wochen nicht zu lüften bringe gar nichts. Er könne allerdings erst am Montag vorbeischauen. Na toll, und wie sollte ich die Taube einstweilen loswerden? Ob ich es schon mit Krach versucht hätte, fragte Herr Bitter. Wie dumm von mir! Plötzlich erinnerte ich mich, dass die Vermieterin eines Freundes alle paar Wochen auf ihren Dachboden gestiegen war und dort ohne Vorwarnung für Mensch und Tier ein Magazin Platzpatronen verballert hatte. Die stets neu dort eindringenden Tauben fanden das noch weniger lustig als die Mieter des Hauses.

Ich beschloss, meinen ungebetenen Gast mit einem Schraubenzieher mürbe zu klopfen und donnerte mit der flachen Seite des Griffes minutenlang unter die Badezimmerdecke, dorthin, wo ich das Versteck des Vogels vermutete. Ein Höllenradau – verwunderlich und eigentlich ein schlechtes Zeichen, dass keiner der Nachbarn die Polizei alarmierte. Dann öffnete ich das Fenster einen Spalt breit. Die Stunde der Wahrheit! Jetzt kam es darauf an, die Flucht der Taube zu beobachten. Ich stürzte zum Balkon.

Ein paar Minuten musste ich dem Vogel natürlich geben, er musste hoffen, die Luft sei rein. Gebannt starrte ich die Hausfassade entlang. Nichts. Mein Rücken fing schon an weh zu tun, da lugte endlich ein Taubenschnabel aus dem Lüftungsfenster, feuerrote Augen starrten in meine Richtung, misstrauisch, wissend. Böse. Und Abflug!

Am Montag stand Herr Bitter vor der Tür, wie verabredet um halb acht in der Früh. Seine Arbeitskleidung bestand aus einem gelben T-Shirt und einer grünen Latzhose – Diskretion pur! Schnell war alles gezeigt, und Herr Bitter krabbelte, bewaffnet mit Werkzeug, Kehrsystem und Eimer, leicht aufschnaufend in den staubigen, rußigen Lüftungsschacht. Der arme Herr Bitter.

Nach zwanzig Minuten war das Taubennetz installiert. Ein großes Glas Mineralwasser hatte sich Herr Bitter nun redlich verdient. Platz nehmen mochte er allerdings erst, nachdem ich ihm versichert hatte, der angebotene Stuhl sei mit Kuhfell bezogen und geradezu unempfindlich. Nicht einmal ein Händehandtuch hatte er akzeptiert und sich die feuchten Finger an der Latzhose getrocknet. Offenbar bekam Herr Bitter selten einen Platz angeboten.

„In Ihrem Beruf kriegen Sie wohl so allerhand zu sehen?“, eröffnete ich das Gespräch etwas vage. „Ja, schon“, kam es vorsichtig zurück. Auch mit ein paar lustig gemeinten Bemerkungen über die skandalösen Zustände bei der Räumung der Dienstwohnung des Pariser Exbürgermeisters im April konnte ich Herrn Bitter nicht wirklich aus der Reserve locken. Eine vollgerümpelte, abgeschlossene Wohnung, die jahrelang nur von Nagern bevölkert wird? Unerfreulich, aber für einen gestandenen Schädlingsbekämpfer nicht wirklich sensationell.

Herr Bitter taute erst auf, als ich fragte, ob er gegen Tauben gelegentlich auch Gift einsetze. „Oh nein!“, entfuhr es ihm. Ohne Weisung eines Veterinärs ginge da rein gar nichts, nur in Ausnahmefällen werde ein solcher Gifteinsatz gestattet – auch zum Schutz der Menschen. „Das letzte Mal, dass ich mit Gift gearbeitet habe – warten Sie . . . Ja genau, das war vor vier oder fünf Jahren, auf dem Dachboden bei der JVA Tegel.“ Pause. „Ob die Insassen informiert wurden, das weiß ich auch nicht.“ Und dann räsonierte Herr Bitter noch eine Weile über die gemeine Straßentaube, die Nachfahrin entfleuchter oder freigelassener Brieftauben. Mittlerweile, so Herr Bitter, brüteten die Tiere ganzjährig – undenkbar in der Natur mit ihren jahreszeitlichen Nahrungsengpässen. Doch dann musste Herr Bitter weiter, zu einem neuen undankbaren Auftrag. Immerhin war er um zweihundert Mark reicher.

Ob ich meine Auslagen wirklich erstattet bekommen werde? Immerhin: Das Antitaubennetz verschafft mir seitdem ein sicheres Gefühl. Ich kann lüften, so viel und wann immer ich will. Ein Hauch von schlechtem Gewissen beschlich mich nur, als ich Tage später im Baum vor meinem Fenster ein wunderschönes Taubenpaar sitzen sah: Das Gefieder ein pudriges Blaugrau, ein strahlendes Weiß, ein ins Nachtblaue spielendes Schwarz. Wildtauben! Ich schmolz dahin. Ach, hätten die beiden dort, vor meiner Nase, ein Nest gebaut, ich hätte mich gefühlt wie im Kino.

Wie? Sie wollen wissen, was aus „meiner“ Taube geworden ist? Die wohnt jetzt ein Stockwerk tiefer. Im Lüftungsschacht. Wir sehen uns gelegentlich. Und tauschen verachtungsvolle Blicke.

REINHARD KRAUSE, Jahrgang 1961, ist taz.mag Redakteur