Seele im Langzeitwartezimmer

Brigitte Hinrichsen brauchte eine Therapie. Sie wollte sie bei einem Therapeuten, der sie kannte und zu dem sie Vertrauen hatte. Das kostete sie viele Briefe und viele Monate Zeit  ■ Von Sandra Wilsdorf

„Wenn ich meinen Mann nicht gehabt hätte, dann wäre ich wohl ... Na ja, ich bin nicht wirklich suizidgefährdet“, sagt Brigitte Hinrichsen. Aber sie hat Angst, panische Angst. Und jetzt hat sie auch noch diese Wut. Die Wut auf ein Gesundheitssystem, das kranke Innenleben nicht so ernst nimmt wie kranke Körper, das niemanden mit einem gebrochenen Bein auf eine mehrmonatige Warteliste setzt, jemanden mit einer gebrochenen Seele aber schon. Es dauerte ein knappes halbes Jahr, bis die Krankenkasse ihr den Therapeuten ihres Vertrauens genehmigte. Sechs Monate, in denen sie unfähig zu fast allem war, tagelang zusammengerollt auf dem Sofa lag, der Gang zum Briefkasten immer die Angst barg, es könnte wieder ein Brief von der Krankenkasse darin liegen.

Eigentlich hatte Brigitte Hinrichsen schon länger keine akuten Probleme mehr gehabt, trotzdem geht sie ab und zu zum Psychotherapeuten. Auf eigene Rechnung und in der Nähe von Halstenbek, wo die Berlinerin ein paar Tage in der Woche bei ihrem Ehemann lebt. Der Therapeut kennt ihre Geschichte, sie vertraut ihm. Dann zieht sie endgültig von Berlin zu ihrem Mann aufs Land. Das Wochenendleben wird Alltag. Die Kinder bleiben in Berlin, sie sind zwar schon erwachsen, trotzdem ist es irgendwie ein Abschied. Das Leben ändert sich, die Albträume beginnen wieder, „da kamen Sachen von ganz früher hoch“, erzählt Brigitte Hinrichsen. Dieses Früher begleitet sie schon Jahrzehnte. Brigitte Hinrichsen ist, was man therapieerfahren nennt. Als Jugendliche war sie schwer magersüchtig, als Erwachsene erschien ihr das Leben immer mal wieder als Qual. „Manchmal wollte ich aus dem Fenster springen, nur um diese Angst loszuwerden“, sagt sie.

Weil nicht wieder passieren sollte, was vor sechs Jahren geschah, als sie zur Krisenintervention in ein Krankenhaus musste, entschließt sich Brigitte Hinrichsen zu einer Therapie bei dem Therapeuten ihres Vertrauens. Ein Neurologe attestiert ihr Anfang Februar „angstneurotische Störungen, existentielle Unsicherheit, Schlafstörungen und Panikattacken, die die Patientin seit Jahrzehnten schwer beeinträchtigen“. Eine ambulante Psychotherapie scheint dem Arzt „dringend geboten“, er empfiehlt den Halstenbeker Therapeuten und bittet die Kasse um Kostenübernahme.

Ende Februar antwortet die Krankenkasse. Sie lehnt die Kostenübernahme für diesen speziellen Therapeuten ab, weil der noch keine Kassenzulassung hat. Die ist zwar beantragt, liegt aber noch nicht vor. Die Kasse schlägt stattdessen zehn andere Therapeuten vor. Brigitte Hinrichsen ruft bei allen an, obwohl sie eigentlich auf keinen Fall von einer Frau behandelt werden möchte. „Keiner hatte einen Platz, die haben alle gesagt, ich solle im nächsten Jahr noch einmal anrufen.“ Das herauszufinden „hat mich sehr viel Kraft gekostet“. Auch der psychotherapeutische Bereitschaftsdienst und das von der Kasse empfohlene Infotelefon können ihr nicht weiterhelfen. In ihrer Nähe gibt es keine Therapieplätze. „Ich konnte aber auf keinen Fall weiter als zehn Minuten mit dem Auto fahren.“

Das bescheinigt ihr Ende April auch der Neurologe: „Aufgrund von Panikattacken, vor allem auch beim Fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln sowie beim Autofahren“ sei der Aktionsradius erheblich eingeschränkt. Das akzeptiert die Krankenkasse, bemängelt jedoch, dass aus dem Attest nicht hervorgehe, dass Brigitte Hinrichsen auf einen männlichen Therapeuten festgelegt ist. Mittlerweile sind drei Monate vergangen, Brigitte Hinrichsen kann die Korrespondenz nicht selber führen, ihr Mann hilft ihr. Für sie ist es ein Rätsel, wie Menschen diesen Weg schaffen sollen, die alleine leben.

Sie geht wieder zum Neurologen, doch der ist ratlos: „Ich kann Ihnen nicht attestieren, dass sie von keiner Frau therapiert werden könne, das können doch nur Sie beurteilen. Und das muss auch die Kasse akzeptieren.“ Stimmt, denn jedem Patienten steht ein Wahlrecht zu. Die Kasse verlangt von ihrem mittlerweile völlig zermürbten Mitglied aufzuschreiben, wann sie welche der vorgeschlagenen Therapeuten kontaktiert hat und mit welchem Ergebnis. Das hat Brigitte Hinrichsen telefonisch längst mitgeteilt – allerdings nur der Urlaubsvertretung. Sie schreibt auf, welche der Therapeuten keine Zeit hatten und welche gar keine Therapeuten, sondern Neurologen waren. „Ich war so verzweifelt, ich habe am Telefon geheult“, sagt sie.

Am 17. Mai kommt wieder ein Brief von der Kasse: „Die medizinischen Voraussetzungen für eine Kostenbeteiligung können wir nur in Zusammenarbeit mit dem Medizinischen Dienst beurteilen.“ Die Unterlagen wurden deshalb weitergeleitet, „bitte haben Sie etwas Geduld“. Sie sagt: „Ich fühlte mich verlassen wie ein Kind.“

Einen weiteren Monat später – es sind inzwischen fast fünf Monate vergangen – freut sich die Krankenkasse, mitteilen zu können, dass sie sich an den Kosten für die tiefenpsychologisch fundierte Therapie beteiligen wird. Dabei handele es sich um eine Einzelfallentscheidung ohne Rechtsanspruch. Und warum? „Grundlage für die außervertragliche Therapie ist die Dringlichkeit dieser Behandlung und die Tatsache, dass aufgrund der vorliegenden Diagnose ein weiter entfernt liegender Vertragsbehandler für Sie nicht zumutbar ist.“

Brigitte Hinrichsen kann inzwischen wieder allein kleinere Autoausflüge unternehmen. „Ich bin ja schon zufrieden, dass ich keine Albträume mehr habe und meine Meditation wieder schaffe.“