Ein dämpfelndes Dorf voller Achselzucker

■ Von der erfolglosen Suche nach Streit mit Bremern. Bayerische Bemerkungen zur Lage der Hansestadt

Ich habe mir vorgenommen, von meinem kurzen Aufenthalt in Bremen nichts mit nach Hause zu nehmen – deswegen entsteht dieser Text. Alle vor Ort liebevoll aufgesuchten Vorurteile und, dem bundesrepublikanischen Einerlei abgetrotzten, Besonderheitserfahrungen will ich in der Gaststadt zurücklassen, wo sich bestimmt viel mehr Menschen dafür interessieren. Es war das erste Mal, dass ich da war.

Aber schon von dem an, was man für gewöhnlich die „frühe Jugend“ nennt, hatte Bremen für mich eine ganz klare und besondere Bedeutung. Das Wort meinte nicht nur einen fernen Ort, wo Nosferatu vor Anker gegangen war und wo schlanke hochgewachsene Menschen mit Immobilien, Kaffee und Bordeaux handelten, sondern Bremen konnotierte in meinem – fast noch vorpupertären – Wortschatz auch „Konsequenz“.

Die Hansestadt (nirgendwo wird man übrigens häufiger als in Bremen selbst an diesen einstigen Gnadenstand erinnert) schien Inbegriff einer protestantischen Gesinnungsethik, die bedingungslos das Handeln nach absoluten Prinzipien verlangte. Bremen war ein höher gelegener erkenntnistheoretischer Ort – er erlaubte einen analytischen Blick, der das selbstgefällig bajuwarische Leben in meiner Heimatstadt Regensburg in provinziellen Bratwurst-Dunst auflöste und den auf der ehemaligen Reichsstadt lastenden Schatten der Domtürme hervortreten ließ.

Dieser Eindruck hatte mit meinem Schulfreund Johannes zu tun, der in der fünften Klasse (und viele Jahre darauf) in der Schule neben mir saß und frisch aus der Wesermetropole eingetroffen war. Wäre er nicht als Kontrapunkt in unsere Mitte getreten, wir hätten alle – einschließlich der sporadisch vorhandenen reichsstädtischen Protestanten – viel länger gebraucht, um herauszufinden, wie abgrundtief katholisch wir doch waren, wie unreflektiert wir unsere mit Bierschinken belegten Pausenbrote verschlangen und uns von den pädagogischen Anbiederungen unserer Weißbier-gestärkten Lehrer einwickeln ließen. Für mein Leben ist Johannes eine riesengroße Berreicherung gewesen – auch wenn ich mich noch recht gut erinnere, ihn beim Abspülen einmal fast mit dem Brotmesser ermordet zu haben: Das Radioprogramm hatte unter uns eine Diskussion über bayerische Folklore entfacht.

Das reale Bremen konnte einige meiner weitgespannten Erwartungen an den „anderen“ Ort erfüllen.

Besonders beindruckt hat mich der hier fortdauernde kreative Kampf um den öffentlichen Raum. Die malerisch verwilderten oder liebevoll wie Bauerngärten bepflanzten Vorgärten in der Neustadt demonstrieren alternative wohngemeinschaftliche Gesinnung – und auf einigen Balkonen wuchert der Cannabis in schamloser Sichtbarkeit. An allen möglichen Ecken findet man große und kleine Kunst, insbesondere viele phantasievolle Wandgemälde. In Bremen scheint es auch eine ungewöhnlich große Zahl von beseelten Eltern zu geben, die mit ihren Sprösslingen und ein paar Töpfen Plaka-Farbe losziehen, um den nächsten Fernmeldekasten bunt anzumalen.

Da sind tolle Kulturzentren, wo auch vor kleinem Publikum wacker gegen den Zeitgeist angespielt wird, neben deutsch-türkischen Begegnungszentren und Vereinslokalen, wo sich afrikanische mit deutschen Frauen treffen. Um die Ecke stemmen sich die „Gewitterziegen“ gegen den Wind, und ein paar Straßen weiter fordern Plakate die Umgestaltung eines einsturzgefährdeten Altbaus in ein Projekttheater.

Aber es gab auch Enttäuschungen. Vor allem irritierte mich das weitgehende Desinteresse am Bayerischen, dem ich begegnete: ein Mangel, so möchte ich sagen, an reformatorischem Eifer.

Besonders jetzt, wo unser Landesvater sich anschickt, als Bundeskanzler zu kandidieren, hatte ich mich auf leidenschaftliche Anwürfe und heiße Auseinandersetzungen wie in alten Schultagen gefreut. Ich hätte immer wieder erklären können: „Seht doch, dies ist nicht die ganze Wahrheit, es gibt ein anderes Bayern unter der Oberfläche des technokratisch-wertkonservativen Freistaats!“ – dabei wäre mir freilich bewusst gewesen, einen nur halbwahren Mythos zu verbreiten. Stattdessen begegnete ich meist einer einschüchternden hanseatischen Coolness: Bayern erregt hier keine Leidenschaften, es liegt einfach so weit weg – gar noch weiter als Bremen aus umgekehrter Perspektive.

In einer kleinen Kneipe versuchte ich den liebgewonnenen regionalen Antagonismus zu entfachen und erntete nur ein abgeklärtes Lächeln: „Bayern“, meinte der Gesprächspartner achselzuckend, „mir wäre das halt einfach zu eng.“ Ich fragte noch hoffnungsvoll nach: „Wie, zu eng?“ Aber die Antwort ließ keinen Raum für produktive Antithesen: „In jeder Hinsicht.“ Das war's. Ein anderer junger Bremer, der jeden Tag bis mindestens drei Uhr rumzieht, sagte: „Weißt Du, das Nachtleben in Bayern, das interessiert mich halt einfach überhaupt nicht.“ Bayern ist für die Hiesigen also in Afrika.

Überhaupt ist man sich oft selbst genug. Bremen ist eben doch nicht die Hefe der Republik – und viele Bremer sind sich dessen auch melancholisch bewusst: Ihnen erscheint die Stadt als ein unter dem Deckel der großen Koalition dämpfelndes Dorf, das durch die engen Verflechtungen des schwarz-roten Patriziats immer noch kleiner wird. Und in der Tat: Wenn man einmal etwas länger da ist, zieht sich die erst recht weit- und weltläufig wirkende Stadt ein wenig zusammen und wird Regensburg immer ähnlicher – was sicher auch sein Gutes hat.

Statt zum Angriff gehen einige Bremer sogar zur Verteidigung über. Auf einem sehr offiziösen Empfang mit Herrn Scherf und exquisiten Schnittchen, kommt ein freundlicher Anzugträger mittleren Alters auf mich zu, erklärt mit Blick auf mein Outfit, er habe früher auch immer die „taz“ gelesen – und kommentiert die betont lockere bürgermeisterliche Ansprache mit den Worten: „Na sehen Sie, die Norddeutschen sind gar nicht immer so stur, wie Sie in Bayern das denken.“

Wirklich, wären da nicht dieser weite Horizont und der salzige Geruch an der Weser (jawoll, ich bleibe dabei: man kann es riechen, das Meer!), ich fühlte mich fast wie zu Hause. Natürlich wäre es mir lieber gewesen, der nette Herr hätte uns mehr Gesprächsstoff geboten – indem er etwa Otto Modersohn zitiert hätte: „Ach wie viel großartiger ist doch diese Ebene gegen das Gebirge!“ Zeno Ackermann