: Als Fremde in einem fremden Land
Kein „Insel-Hopping“: Mit dem Jugendprojekt der Freien Hilfe Berlin verrichten junge Straftäter gemeinnützige Arbeit in Russland. Selbst rechte Jugendliche kehren bisweilen geläutert oder sogar verliebt aus den Sommercamps zurück
Wenn Matthias B. über Russland spricht, klingt leichter Widerwille mit. „Das ist nicht gerade das Urlaubsziel, zu dem ich reisen würde“, gesteht der 18-Jährige. Aber ein Urlaub soll sein Russlandaufenthalt auch nicht sein. Er und sieben andere junge Männer im Alter von 18 bis 21 Jahren sollen in der Einöde der Kaluga-Region südlich von Moskau vor allem schuften und soziales Verhalten lernen. „Früh aufstehen, bis mittags arbeiten, Wasser aus einem See, kein Strom, kein Fernseher“, so richtig fassen kann Matthias B. noch nicht, was ihn ab Montag erwartet.
Ein schwerer Raub führte den Malerlehrling zum Jugendprojekt der Freien Hilfe Berlin. Eigentlich hätte er achtzehn Monate Haft verbüßen müssen, doch das Gericht schickte ihn zum „erlebnisorientierten sozialen Trainingskurs“. Gemeinsam mit russischen Jugendlichen sollen die Berliner einen botanischen Garten aufbauen. Mit „Insel-Hopping“ habe das nichts zu tun, sagt Jutta Roggmann, Sozialarbeiterin im Projekt. Einwände, dass Straftäter mit solchen Fahrten belohnt würden, kann Roggmann nicht mehr hören.
Russland wurde ganz bewusst als Fahrtziel etabliert. Entscheidend waren die einfachen Verhältnisse des Landes und die Herzlichkeit der Bevölkerung. „Einmal zelteten wir mitten im Wald im Kaukasus“, erzählt Roggmann. Einkaufen war nur in einem abgelegenen Dorf möglich. Alles wurde geteilt, jeder musste Verantwortung übernehmen. „Der gewohnte Konsum fehlt. Die Freizeit muss ganz anders gestaltet werden. Das ersetzt fast eine Verhaltenstherapie“, sagt Roggmann. Mit Fußball, Angeln oder einem Lagerfeuer vertreiben sich die Jugendlichen die Zeit – zu Hause undenkbar. Nur Wodka ist tabu. Wer sich daran nicht hält, fährt zurück.
An einem Probewochenende mit Kanu und Fahrrad wird getestet, ob die Kandidaten für die große Fahrt geeignet sind. Nur acht dürfen mit ins Sommercamp, überwiegend Jugendliche, die schwere Delikte begangen haben: Körperverletzungen oder Raub. Oft handelt es sich um Rechtsextreme. „Sich selbst als Fremder in einem fremden Land zu fühlen und die Sprache nicht zu beherrschen, ist eine wichtige Erfahrung.“ Der Kontakt mit Einheimischen wird deshalb groß geschrieben. Zentraler Punkt der Fahrt ist die gemeinnützige Arbeit, die die Teilnehmer wieder an einen geregelten Tagesablauf heranführen soll. Ob ein Karpfenteich gebaut oder ein Weg angelegt wird, „fürchterlich stolz“ seien die Jugendlichen auf das, was sie leisten, sagt Roggmann.
Rund 65 Jugendliche nehmen jährlich an sozialen Trainingskursen des Jugendprojekts teil. Das Sommercamp ist der Höhepunkt. Rund 20.000 Mark kostet die Fahrt insgesamt. Den größten Teil des Geldes verschlingt der Flug. Im Gegensatz zu den Kursen, die vorläufig noch vom Land getragen und langfristig von den Bezirken finanziert werden, ist das Camp abhängig von Sponsoren. In diesem Jahr kommt das Geld von der Henry-Maske-Stiftung.
Konflikte sind auf der dreiwöchigen Fahrt vorprogrammiert: „Einmal ist ein Jugendlicher mit einem Messer auf einen Passanten losgegangen.“ Roggmann erinnert sich aber auch an zahlreiche positive Erlebnisse. Eine Gruppe habe nach der Fahrt russische Jugendliche nach Berlin eingeladen. „Da war einer dabei, der rechts organisiert war und seinen Freunden erklären musste, warum er Russen begleitet. Außerdem hatte er sich in ein russisches Mädchen verliebt.“
Für Matthias wird die Fahrt in jeder Hinsicht entscheidend. Nach der Rückkehr wird sich herausstellen, ob seine Strafe endgültig auf Bewährung ausgesetzt wird. SANDRA FOMFEREK, DDP
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