Scones statt Sauerkraut

Das Brandenburger Projekt „Weltoffenheit“ lädt englischsprachige Studenten ein, damit deutsche Jugendliche ihre Vorurteile gegenüber Fremden abbauen. International essen hilft dabei enorm

Am Ende ist die Front gegen Nazis unter den Weltoffenen viel größer

von CHRISTIAN TERIETE

Alexia macht mit einer geräumigen Tupperdose die Runde. In dem tiefen Zuckersand kommt sie nur mühsam voran. Ringsum mampfen die meisten Kinder schon die kleinen Kuchen, krümeln den Strand damit voll. „Hmmhh“, sagt ein zufriedener Junge mit dicken Backen und greift begeistert nach der zweiten Portion. Ein Mädchen blickt misstrauisch auf ihr Gebäck und popelt langsam die Rosinen heraus. „Wie heißen die?“, fragt der Junge. Alexia denkt kurz nach und antwortet: „Scones.“

Ein deutscher Name ist ihr nicht eingefallen. Sie kommt aus England, und in ihrer Heimatstadt York sind „Scones“ sehr beliebt. Etwa 20 junge Leute sitzen kauend im Sand und sagen „köstlich“ oder „delicious“. Ihre Heimatstädte heißen Lichterfelde und Eberswalde. Von England haben die meisten bisher nur in der Schule gehört. Dass sie heute Alexias kleine Kuchen probieren dürfen, verdanken sie der Regionalen Arbeitsstelle für Ausländerfragen (RAA).

Die holt jedes Jahr im Sommer Studierende aus dem englischsprachigen Raum nach Brandenburg. Sie bilden dreiköpfige Teams und bereisen das Berliner Umland. Ob Briesen, Wulkow oder Kolkwitz – einen Hauch von weiter Welt sollen sie in die Dörfer bringen. Vier Wochen haben die Trios, um das Vertrauen der Jugend zu gewinnen. Und um von zu Hause zu erzählen, von fremden Ländern und Kulturen. Das Ganze mitten in Brandenburg, wo Ausländer gern verhauen oder zu Tode gehetzt werden.

Genau darum geht es. „Weltoffenheit“ heißt das Projekt, es will Vorurteile abbauen und Toleranz fördern. Aus diesem Grund füttert Alexia die Schleckermäuler am Strand des Üdersees bei Lichterfelde mit typisch englischem Gebäck. Die Tupperdose ist inzwischen fast leer. Der Junge mit den dicken Backen hat Glück und ergattert noch ein drittes Scone.

„Eigentlich wollte ich zwei Bleche backen“, sagt Alexia, „aber das erste ist mir total misslungen.“ Gespannte Gesichter, und als die Engländerin berichtet, sie habe das Backpulver vergessen, prusten einige los. „Da gibt’s nichts zu lachen“, sagt Alexia, „euer Mehl ist schuld.“ So sehen kulturelle Unterschiede aus. In England ist das Backpulver im Mehl schon drin.

Ein paar Jungs kommen vom Beachvolleyball zurück. Sie lassen sich keuchend auf ihre Handtücher fallen. Alle schwitzen, und gleich nach dem ersten tiefen Schluck aus der Wasserflasche streifen einige hungrige Blicke die Tupperdose. Leer. Marcie erkennt das Problem und kümmert sich gleich um Nachschub. Die Studentin aus Seattle sitzt zwischen prall gefüllten Plastiktüten. Zutaten für Wurst- und Käsebrötchen hat sie reichlich mitgebracht.

Die werden ihr – kaum fertig – aus der Hand gerissen. Der Umgang ist ungezwungen. Alexia und Marcie lassen sich einige Frechheiten gefallen. Scherze, blöde Sprüche, als würde man sich seit Jahren kennen. Die beiden fallen nur durch ihre Zettel auf. Damit ziehen sie herum, unermüdlich auf der Suche nach Interessierten, die morgen am Ausflug teilnehmen.

Aladin bringt die Leute gern zum Lachen. Buntes T-Shirt, dunkle Locken – der Israeli sieht nach Sommer aus. Eigentlich studiert er Psychologie an der Universität in Haifa. Jetzt sucht er Abnehmer für Schrippen mit Salami. Nicht alle kommen mit seiner offensiven Art klar. Neben ihm hockt ein Junge und durchsucht eine Plastiktüte nach Käse. Verschüchtert sagt er: „Schönes Leben, nicht?“ Aladin bemerkt die Unsicherheit seines Gegenübers, lächelt und sagt: „Ja, stimmt.“

In Israel könne man jeden Tag deutsche Touristen treffen, berichtet der 24-Jährige. Und eine deutsche Freundin gab es da auch noch. Marcie erzählt nichts von einem deutschen Freund. Ihr Bezug ist anders. Als Schülerin lebte sie ein Jahr in Mecklenburg. Heute studiert sie Deutsch an der Universität in Seattle. Eines Tages sei dort eine Frau namens Katharina Grote-Schwinges aufgetaucht.

Man scherzt, macht blöde Sprüche, als würde man sich schon Jahre kennen

Alljährlich tingelt die Leiterin des Projekts „Weltoffenheit“ durch England und Amerika, wirbt an Universitäten für einen Trip nach Brandenburg in Germany. Marcie entschied sich, einen Sommer lang gegen Vorurteile zu kämpfen. Alexia ging es ähnlich. Einmal angekommen, musste ihr Deutschlandbild neu gemalt werden. Den Osten hatte sie sich heruntergekommen und baufällig vorgestellt. „Aber in Wirklichkeit ist alles schön“, jubelt sie los. Es klingt beinahe, als würde sie das so meinen. Auch Marcie kann sich noch gut an die Klischees erinnern: „Lederhosen, Sauerkraut, Weißbier trinken und Lieder singen – so hab ich mir das vorgestellt.“

Jetzt weiß sie, dass in Deutschland nicht das ganze Jahr Oktoberfest ist. Schon gar nicht in Brandenburg. Und: „Wir haben gelernt, dass Deutsche nicht immer pünktlich sind.“ Völkerverständigung hat viel mit solchen Alltäglichkeiten zu tun. Aladin kann nicht fassen, dass die Lokalzeitung über seinen Kichererbsenbrei berichtet. In Israel ist dieses „Humus“ sein tägliches Brot. In der ostdeutschen Provinz wird aus der exotischen Kost eine Sensation.

Überall haben sich die drei vorgestellt. Natürlich wurde Aladin in der Grundschule nach seiner Wunderlampe gefragt. Beim Bürgermeister waren sie eingeladen. Im Kindergarten hatte sich noch gar nicht rumgesprochen, was Ausländer sind. „Die Kleinen haben uns eine Sonderschule empfohlen“, erinnert sich Marcie, „wir könnten ja gar nicht richtig sprechen.“

Beim Workshop mit der Dorfjugend, beim Kaffeeklatsch im Seniorenstift – überall redeten sie so lange über ihre Heimatländer, bis sich die meisten Klischees in Luft aufgelöst hatten. Tee trinkt die Engländerin Alexia zum Beispiel nur ungern. In wenigen Tagen wurden aus den Fremdländern lokale Berühmtheiten.

Kein seltener Effekt, wie Projektleiterin Grote-Schwinges aus Erfahrung weiß. Als sie eine andere Gruppe besuchen wollte, aber deren genaue Adresse nicht kannte, fragte sie drei Jungs am Ortseingang. „Dahinten links, dritte rechts und dann immer geradeaus“, antworteten die prompt. Um gleich hinterherzuschieben: „Und sie sind gerade nach Hause gekommen.“ Fremde im Dorf sind spannend und werden genau beobachtet.

Das mit den skeptischen Blicken an der Kühltheke im Supermarkt sei schnell vorbei gewesen, sagt Alexia.

Jetzt winken die Leute aus ihren Vorgärten, wenn das Trio einen Spaziergang durch Lichterfelde macht. Fremdenfeindlichkeit? „Nee“, sagt Marcie, „wir sind hier herzlich und offen aufgenommen worden.“ Und was ist mit Neonazis? Aladin erzählt, er habe viele Graffiti gegen Nazis gesehen, aber kein einziges gegen Ausländer. „Und die Leute im Jugendclub haben gleich gesagt, sie seien links und ganz offen“, fügt er hinzu. Tatsächlich haben die Kids am Strand bunt gefärbte Haare, manche tragen T-Shirts mit dem A für „Anarchie“. Punkanflüge.

Lichterfelde sei unproblematisch, behauptet Grote-Schwinges. „Hier gibt es keine Ausländer“, sagt die Projektleiterin. Doch gerade darin liege häufig die Ursache für Fremdenfeindlichkeit. Die ist in Brandenburg, verglichen mit anderen Bundesländern, besonders ausgeprägt. „Weltoffenheit“ will das ändern, über Gespräche von Mensch zu Mensch. Überzeugte Rechte könne man so sicher nicht bekehren, aber ahnungslosen Brandenburgern die Berührungsängste nehmen. Grote-Schwinges ist von der Idee begeistert. Und weil das Projekt ein Erfolg ist, wurde es in diesem Jahr erstmals auf Sachsen-Anhalt ausgeweitet.

Eine Waliserin passt in kein Kleid mehr nach der vielen deutschen Hausmannskost

Ein Erfolg? Aus Brandenburg kommen doch alle paar Tage schlimme Nachrichten. „Wieder ein Verbrechen mit rechtsradikalem Hintergrund.“ Man möchte fast an Falschmeldungen glauben, als 22 „Weltoffene“ am Samstag zum Austausch ihrer Erfahrungen in der „Alten Feuerwache“ in Kreuzberg zusammenkommen. Ein Schwärmen und Schwelgen ist das – über neue Freundschaften, über total tolle Ausflüge, über rauschende Multikulti-Partys. Polnische Städte, Cargolifter, Körperwelten – das alles haben die „Weltoffenen“ in den letzten Tagen gesehen. Und irgendwo in Brandenburg beherrschen ein paar Kids jetzt Limbo. Andere haben bei internationalen Trommelworkshops dazugelernt. Sie können von Brauereibesuchen und Paddeltouren im Spreewald berichten.

Aber da war mehr als interkulturelles Entertainment. Rechtsradikale auf der Anklagebank hat sich die Gruppe aus Milow angeschaut. Die Jugendlichen wurden ins örtliche Asylbewerberheim geschleppt. Später wussten alle ein bisschen mehr über Sierra Leone und die Schwierigkeiten eines afrikanischen Flüchtlings ohne Deutschkenntnisse. Die Leute aus Eggersdorf erzählen mit besonders leuchtenden Augen von ihren Erlebnissen. Sie haben jugendliche Spätaussiedler aus der Isolation geholt. Nach einigem Zögern hätten sich die brandenburgischen Kids mit den gleichaltrigen Russlanddeutschen klasse verstanden. Die Front gegen Nazis – in Eggersdorf sehr häufig vertreten – sei jetzt viel stärker.

Schlechte Nachrichten sind kaum zu hören. Die Amerikanerin Brenda war in einen Fahrradunfall mit einem Wildschwein verwickelt. Eine Waliserin hat so viel deutsche Hausmannskost zu sich genommen, dass sie nicht mehr in ihre Sommerkleider passt. „Wir hatten nicht genug Zeit“, klagen die meisten. Und fast alle leiden an ihrem Abschiedsschmerz. Er habe in den vier Wochen so viel erlebt wie sonst in zwei Jahren nicht, sagt Will aus England. „Und gestern Abend beim Abschied hätte ich fast geweint.“

Die anderen nicken. Auch Aladin wird etwas sentimental. Als lauter Adressbücher kreisen, die mit brandenburgischen Adressen und Telefonnummern voll geschrieben sind, zieht er einen Zettel aus seiner Tasche. Ein Junge aus Lichterfelde hat ihm zum Abschied was gedichtet: „Die Zeit mit euch war wirklich toll // doch leider müsst ihr nun mal los // und das ist doch wohl grauenvoll.“