Heimkehr unter Pflaumenbäume

Das buddhistische Kloster im südfranzösischen Plum Village ist kein Hang-out für buddhistisch angehauchte Westler. Der Mönch Thich Nhat Hanh lehrt dort im Exil einen „engagierten Buddhismus“, und viele vietnamesische Migranten kommen

von JEANNETTE GODDAR

Man könnte eine Stecknadel fallen hören. Zweihundert Männer und Frauen haben sich in dem rechteckigen Raum, der von außen eher an eine Turnhalle als an ein Kloster erinnert, von ihren blauen Sitzkissen erhoben. Die Hände vor der Brust gefaltet, den Kopf gesenkt, stehen sie regungslos da, in stummer Begrüßung des alten Mönchs, der wie an jedem Morgen pünktlich um acht durch einen Seiteneingang hereinkommt und langsam – achtsam, wie man hier sagt –, an ihnen vorbeischreitet. Bevor der kleine Mann, der fast zerbrechlich wirkt in seiner überweiten Kutte, im Lotossitz auf dem Podest Platz nimmt und dort eineinhalb Stunden regungslos verharren wird, legt auch er die Handflächen aneinander und verneigt sich vor seiner Gemeinde, seiner „Sangha“.

Erst nachdem Thich Nhat Hanh sich gesetzt hat, nehmen die weit über 200 zivil gekleideten Gäste Platz. Etwa 50 Nonnen und Mönche stellen sich im Halbkreis hinter dem Meister auf und stimmen einen vietnamesischen Gesang an – der, wie die nichtvietnamesischen Besucher erst später erfahren werden, von Krieg und Frieden handelt. Anschließend ertönt der tiefe Ton einer Glocke. Fast flüsternd und ohne Zuhilfenahme jedweder rhetorischen Mittel fängt der alte Mann auf dem Podest an zu sprechen. Von einer kurzen Pause unterbrochen, wird er das den ganzen Vormittag tun – und nicht nur die Erwachsenen, sondern auch die etwa 50 Kinder bringen es fertig, schweigend sitzen zu bleiben und zu lauschen.

Man könnte es dem zufällig Vorbeikommenden – den es allerdings kaum gibt – nicht verdenken, wenn er sich an diesem abgeschiedenen Platz, etwa 150 Kilometer östlich von Bordeaux, in eine Sekte verirrt zu haben meinte. Schon am Eingang erwartet den Besucher ein Schild mit der etwas irritierenden Aufschrift: „I have arrived. I am home.“ Das ganze Areal hat den nicht weniger irritierenden Namen „Plum Village“ (Pflaumendorf). Letzterer zumindest macht bei genauerem Hinsehen allerdings Sinn: Über das mehrere Quadratkilometer große Gelände erstrecken sich riesige Areale von Pflaumenbäumen, von den Nonnen und Mönchen gepflanzt, um in der Fremde den Lebensunterhalt zu sichern.

Denn anders, als man mutmaßen könnte, ist „Plum Village“ nicht in erster Linie ein Hang-out für buddhistisch angehauchte Westler, die, wenn sie die Nase voll von der unbequemen Meditationshaltung haben, nebenan Tennis spielen. Lediglich in den Sommermonaten und über Weihnachten öffnen die vier Gutshöfe für insgesamt sechs Wochen für zivil gekleidete Menschen ihre Tore. Die kommen dann zwar in Scharen, treffen aber, anders als in den Kommunen Oshos oder Sai Babas, kaum auf eine eigens für sie geschaffene Infrastruktur: Für wenige Stunden am Tag öffnet der kleine Buchladen, der außer buddhistischer Lektüre lediglich lauwarmen Orangensaft und ein paar Schokoriegel anbietet; es gibt kein Café, kein Restaurant, nicht einmal ein Volleyballnetz. Im Wesentlichen tun die Besucher hier das, was in vielen Ländern Südostasiens Zigtausende tagein, tagaus tun, ohne sich der Anbiederung an östliche Lebensweisheiten verdächtig zu machen: Sie folgen den Regeln eines Klosters, verbringen ihre Zeit mit Meditation und innerer Einkehr.

Auch Tagestouristen sind nicht erwünscht – Besucher sollen mindestens eine Woche bleiben. Die Preise sind nahe am Selbstkostenniveau: Eine Woche im Zelt mit voller Verpflegung kostet den Besucher etwa 350 Mark. Darüber, was die Besucher am Klosterleben einerseits, an den Weisheiten Thich Nhat Hanhs andererseits so sehr reizt, dass fast alle jedes Jahr wiederkommen, eine einheitliche Aussage zu treffen, ist unmöglich. Viele bezeichnen sich als praktizierende Buddhisten; einige machen den Eindruck, seit Jahren auf einer nicht enden wollenden Suche zu sein. Andere stehen mit beiden Beinen mitten im Leben und nutzen den Rückzug in den Sommerwochen für Ruhe und Kontemplation, zu der sie sonst nicht kommen.

Der vietnamesische Mönch Thich Nhat Hanh ist einer der am meisten verehrten Zen-Meister der westlichen Welt mit zahllosen Anhängern in Westeuropa und den USA. Ihm deswegen aber vorzuhalten, er sei willentlich gen Westen gereist, um westliche Menschen von östlicher Denkweise zu überzeugen oder auch nur an ihr Geld zu kommen, wäre zynisch: Der Ort in Frankreich ist ein Exilkloster mit 50 Nonnen und Mönchen, dessen Gründern der Rückweg bis heute versperrt ist. In Vietnam gilt Thich Nhat Hanh, der sich in den 60er-Jahren international nicht nur als buddhistischer Mönch, sondern auch als Kämpfer gegen den Vietnamkrieg einen Namen machte, bis heute als „unerwünschte Person“ (siehe Kasten).

Seit Anfang der 80er-Jahre lehrt er in Frankreich, aber auch in den USA das, was er unter „engagiertem Buddhismus“ versteht. Meditation, so Thich Nhat Hanh, bedeute nicht, aus der Gesellschaft auszusteigen, sondern sich auf einen Wiedereinstieg in sie vorzubereiten. Was der 75-Jährige predigt, ist vor allem der Weg zu einem achtsamen Leben: Wenn sie gehen, lehrt er seine Zuhörer, sollen sie sich des Gehens bewusst sein, wenn sie essen, sollen sie sich auf nichts als das Essen sowie dessen Herkunft konzentrieren – schließlich stecke in jedem Reiskorn die Arbeit eines armen Bauern, der den Reis an irgendeinem Ort der Welt geerntet habe. Der Mangel an Achtsamkeit, so Thich Nhat Hanh, sei daran schuld, dass die Welt voll Krieg, Gewalt und Hass sei.

Leiden, so lautet eine seiner zentralen Botschaften, kann nur durch Liebe überwunden werden; oder auch: Nicht im Kampf, sondern in der Umarmung steckt die Kraft zur Veränderung der Welt. Für die westlichen Besucher, eine bunte Mischung aus Studenten, Lehrern, Psychologen, aber auch Unternehmensberatern und Ärzten, ist es wohl inzwischen weniger die Sehnsucht nach einer friedlichen Welt, der sie hierher lockt. Stärker scheint ihr Wunsch nach ein bisschen Selbsterfahrung zu sein. Und dafür unterstellen sie sich für die Dauer ihres Aufenthalts den strengen Regeln des Klosterlebens.

Morgens um halb sechs schleppen sie sich beim ersten Gong im Dunkeln zur Frühmeditation. Schweigend nehmen sie anschließend ihr karges Frühstück ein, um pünktlich um acht Thich Nhat Hanhs Ausführungen über Liebe und Leiden, Krieg und Frieden, aber vor allem über den Umgang mit sich selbst zu lauschen. Anstandslos stehen sie für das Mittagessen an, widmen sich anschließend dem Putzen des gesamten Geländes und ziehen sich nachmittags wieder zur Meditation zurück. Ohne zu murren, akzeptieren sie das Redeverbot nach 21 Uhr und verzichten auf Fleisch, Alkohol und Zigaretten.

Es sind aber längst nicht nur Deutsche, Niederländer, Engländer und Israelis, die aus den unterschiedlichsten Gründen und mit den verschiedensten Erwartungen hier anreisen: Wer frühmorgens die fast ausschließlich vietnamesischen Mönche und Nonnen in ihrer eigenen Sprache ihre Gesänge anstimmen sieht, bekommt zumindest eine Ahnung davon, dass dieses kleine Fleckchen Erde für zahllose Exilanten zu einem mühsam in die Fremde hinübergeretteten Stück Vietnam geworden ist. Etwa die Hälfte der Besucher sind Exilvietnamesen, über Land oder als Boat-People geflüchtet vor den verheerenden Auswirkungen des Vietnamkriegs vor oder nach 1975, vor der drohenden Abkommandierung in ein Umerziehungslager unter den siegreichen Kommunisten oder vor der unerträglichen Armut in der außenpolitischen Isolation vor 1989.

Weltweit wird die Zahl der Exilvietnamesen auf mehrere Millonen geschätzt; allein eine Million Boat-People flüchteten nach 1975 nach Hongkong, Singapur oder Malaysia. Auch wenn die wenigsten von ihnen als verfolgte Buddhisten das Land verließen, ist der Buddhismus immer noch ein verbindendes Element. Ganze Familien reisen aus Köln, Plymouth oder Stockholm im Sommer nach Südfrankreich, aber auch Abkömmlinge vietnamesischer Eltern: Aus Berlin ist eine zwanzigjährige Tänzerin, Tochter einer vietnamesischen Mutter und eines deutschen Vaters, gekommen; aus Hamburg ein junger Vietnamese, der nie in Vietnam war und sich auf diesem Weg dem Land seiner Eltern annähern möchte.

Wenn Thich Nhat Hanh, der im morgendlichen Wechsel vietnamesisch, englisch oder französisch spricht – über Kopfhörer kann jeder Vortrag in allen möglichen anderen Sprachen verfolgt werden –, seine „Landsleute“ in deren Sprache anredet, spürt wohl jeder, dass es um mehr geht als ein bisschen Buddhismus light: In eindringlichen Worten, aber auch in erfrischend klaren, einfachen Sätzen und ohne jeden Anflug von Anklage spricht er immer wieder über all die Probleme, die die Migration mit sich bringt. Über die Turbulenzen, in die Eltern geraten, wenn die eigenen Kinder schneller auf eigenen Beinen stehen als sie selbst. Über das Bedürfnis, noch viel stärker als in der Heimat an Traditionen festzuhalten, um die eigene Familie zu retten – und damit den Nachwuchs geradezu unweigerlich aus dem Haus zu treiben. Darüber, dass der einzige Weg, seine Kinder zu verstehen, vielleicht der ist, das Land zu begreifen, in dem sie aufwachsen. „In die Tiefe sehen“ ist wohl eine der am häufigsten gemachten Aufforderungen Thich Nhat Hanhs, – in die Tiefe sehen nicht nur bei sich selbst, sondern auch bei den anderen.

Nach 35 Jahren im Westen ist Thich Nhat Hanh nicht nur ein intimer Kenner westlicher Werte, auch sein buddhistisches Konzept ist zutiefst durchdrungen von westlichem Menschenrechtsverständnis, aber auch von christlichen Werten. Nichtsdestotrotz gilt er als einer der wesentlichen buddhistischen Reformer des 20. Jahrhunderts. Auf die Frage, was aus ihm geworden wäre, wenn er in Frankreich oder den USA geboren worden wäre, gibt er mit einem Lächeln, von dem man nur ahnen kann, wie viel Ironie angesichts seiner zahllosen westlichen Jünger dahinter steckt, eine seiner schönsten Antworten: „Wahrscheinlich“, sagt er, „wäre ich ein gläubiger Christ geworden.“