Nach den Pogromen: Moskau verliert seine Verbündeten

Selbst prorussische Tschetschenen fordern inzwischen eine Änderung der Moskauer Kaukasuspolitik. Statthalter Kadyrow will in den USA dafür Druck machen

MOSKAU taz ■ Erst Pogrome der russischen Armee an der tschetschenischen Zivilbevölkerung holten es in die Erinnerung zurück: Auch sechzehn Monate nach dem von russischer Seite offiziell beendeten Kriegszug herrscht im Kaukasus kein Frieden. Im Gegenteil: Russlands Truppen sind außerstande, der versprengten Rebellen habhaft zu werden, während die Guerilla nicht stark genug ist, um Moskaus Armee aus ihren Stellungen zu vertreiben. Die Pattsituation ist der Nährboden für Gräueltaten.

Die brutalen Ausschreitungen einiger Einheiten des Innenministeriums Anfang Juli in Assinowskaja, Kurtschaloi und Sernowodsk ließen sich jedoch nicht vertuschen. Schon deshalb nicht, weil 1.800 Flüchtlinge binnen eines Tages in der Nachbarrepublik Inguschetien ankamen. Aber auch die Reaktion der verantwortlichen Militärs ließ zunächst aufhorchen: Der Oberkommandierende in Tschetschenien, General Wladimir Moltenskoi, brandmarkte die Taten der Untergebenen als „Verbrechen“ und „gesetzlos“. General Wiktor Kasanzew, zurzeit Vertreter des Präsidenten in der russischen Südregion, entschuldigte sich öffentlich bei den Leitern der tschetschenischen Lokalverwaltungen. Und ohne viel Federlesens suspendierte Moltenskoi zwei seiner Stellvertreter für die Dauer der Untersuchungen. Einsicht und Reue des Militärs hielten nicht jedoch lange vor: Noch am selben Abend korrigierte sich der General. Nun hatten nur „Verletzungen und Abweichungen vom üblichen Reglement“ stattgefunden.

Der Grund für die neue Sprachregelung: Moskau hatte auf der Stelle interveniert. Und zwar in Gestalt Innenminister Boris Gryslows, einem Steigbügelhalter Putins. Demnach waren dem Pogrom Provokationen vorausgegangen . . . die übliche Lesart, mit der man in Moskau Menschenrechtsverletzungen als böswillige Unterstellungen abtut.

Ende vergangener Woche präsentierte der Staatsanwalt Tschetscheniens, Wiktor Dachnow, die Schuldigen. Sechs einfache Soldaten, deren Namen die Staatsanwaltschaft geheim hält. Gerade noch rechtzeitig, damit Kremlchef Putin auf dem Gipfel der führenden Industrienationen in Genua am Wochenende westlicher Kritik den Wind aus den Segeln nehmen konnte. Nach dem Motto: Was wollt ihr mehr, tun wir nicht alles, um Verbrechen zu ahnden?

Die Heuchelei ging nun selbst dem moskautreuen Chef der tschetschenischen Republiksverwaltung, Achmat Kadyrow, zu weit. Er verlangte, dass die verantwortlichen Militärs zur Rechenschaft gezogen werden. Eine Audienz beim Kremlchef wurde ihm bisher nicht gewährt. Geheimdienstler Putin weiß genau Bescheid, was seine Truppen dort anrichten. Und er kennt auch Kadyrows Haltung, der, obwohl ein Statthalter Moskaus, in der massiven Militärpräsenz eher einen Faktor der Instabilität sieht. Er will die Armee durch eine Polizeitruppe ersetzen.

Eine Lösung des Konflikts ist jedoch nicht in Sicht. Verhandlungen mit den Separatisten lehnt Moskau auch weiterhin strikt ab. Eine Wende kann – wenn überhaupt – erst ein Wandel der öffentlichen Meinung herbeiführen. Glaubt man Meinungsumfragen, sind inzwischen 58 Prozent der Bevölkerung für Friedensverhandlungen. Bei Kriegsausbruch waren es lediglich 20 Prozent.

Moskaus Reaktion auf die Pogrome hat die Geduld selbst der prorussischen Tschetschenen über Gebühr strapaziert. Mehrere lokale Verwaltungschefs legten spontan ihr Amt nieder. Der tschetschenische Premier Stanislaw Iljasow drohte gar mit Rücktritt, wenn er weiterhin gehindert werde, „auf die Lage Einfluss zu nehmen“. Ratlosigkeit und Gleichgültigkeit des Kreml verschrecken Moskaus letzte Parteigänger. So droht inzwischen selbst der eher amerikakritische Kadyrow damit, nach Washington zu reisen, „um westlichen Politikern aus erster Hand zu erzählen, was in Tschetschenien wirklich passiert“. Doch Kadyrows klare Worte will der Westen wohl genauso wenig hören wie Moskau.

KLAUS-HELGE DONATH