Keine Meister über Leben und Tod

Die Hemmschwelle der Berliner Polizisten für den Schusswaffengebrauch ist hoch. Doch eine Situation wie in Genua könnte auch in Berlin eintreten. Jährlich werden 3,35 Millionen Patronen für Schießübungen verballert – im „Schießkino für Arme“

von PLUTONIA PLARRE

Es geschah Ende der 80er Jahre bei einer schweren Straßenschlacht am 1. Mai in Kreuzberg. Ein Wasserwerfer hatte sich im weichen Erdreich des Görlitzer Parks festgefahren. „Im Nu war das Fahrzeug von Demonstranten umringt, die versuchten den Wagen zu stürmen“, erinnert sich der stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Uwe Hundt. Die fünfköpfige Mannschaft des Wasserwerfers habe mit gezogener Waffe das Weite gesucht. „Rein rechtlich“, so Hundt, „hätten sie in dieser Situation schießen können.“

An diese Szene hat sich Hundt erinnert, als er vom Tod des 23-jährigen Carlo Giuliani in Genua erfuhr. Die tödlichen Schüsse auf Giuliani waren aus einem Polizeijeep abgefeuert worden, der von Demonstranten angegriffen wurde. Dass es in Berlin bei gewalttätigen Demonstrationen bisher nicht zu ähnlichen Vorfällen gekommen sei, „ist nur mit Glück-gehabt zu erklären“, meint Hundt. Brenzlige Situationen wie die mit dem Wasserwerfer habe es genug gegeben. Nach Benno Ohnesorg, der am 2. Juni 1967 durch eine Polizeikugel starb, sei in Berlin aber nie wieder auf Demonstranten scharf geschossen worden.

Der Chef der Schutzpolizei, Gernot Piestert, führt die Zurückhaltung darauf zurück, dass die Hemmschwelle für den Schusswaffeneinsatz bei der Berliner Polizei „sehr hoch“ sei. „Das bedeutet aber nicht, dass so etwas wie in Genua nicht auch in Berlin passieren kann“, sagt er.

Für 16.200 Berliner Schutzpolizisten ist das Tragen der Pistole im täglichen Dienst auf der Straße Pflicht. „Die Zahl der Fälle, in denen auf Personen geschossen wird, ist verschwindend gering“, sagt Wolfgang Bergemann, Waffenexperte der Polizei. 1997 wurden nach Angaben der Polizeipressestelle zwei Schüsse abgefeuert, ein Mensch starb. 2000 wurden zwei Menschen verwundet. In diesem Jahr wurde ein junger Mann bei einem Supermarktüberfall von einem SEK-Beamten erschossen.

„Jeder Polizist überlegt es sich in der einen Sekunde, die ihm bleibt, zehnmal, ob er abdrückt, weil dass ungeheure Folgen haben kann“, sagt Uwe Hundt. „Niemand möchte gern einen Menschen auf dem Gewissen haben.“ Zudem drohten bei einer Schussabgabe strafrechtliche und berufliche Konsequenzen.

Wenn es zu Verletzten oder Toten gekommen ist, wird gegen den Schützen von der Mordkommission und Staatsanwaltschaft grundsätzlich ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Darin wird geprüft, ob der Schuss rechtlich zulässig war. Der Einsatz der Waffe muss für einen Polizisten immer das letzte Mittel sein. Gebrauch gemacht werden darf von ihr nur dann, wenn damit ein Verbrechen unmittelbar verhindert werden kann. Oder aber, wenn der Beamte selbst in Gefahr für Leib und Leben gerät (Notwehr) oder Dritte (Nothilfe) und diese Gefahr nicht anders abzuwehren ist.

Dass Schüsse aus Polizeipistolen rückhaltlos aufgeklärt werden, war keineswegs immer so. Anfang der 70er wurde ein Tankwart von einem Polizisten durch einen aufgesetzten Genickschuss getötet. Der Beamte befand sich acht Tage auf freiem Fuß, bis er wegen Verdachts auf Totschlag festgenommen wurde. Als Reaktion auf diesen Fall – der für den Täter im Übrigen mit einer siebenmonatigen Freiheitsstrafe auf Bewährung endete – hatte die Polizei eine interne Schusswaffengebrauchskommission, „Schussko“ genannt, eingerichtet. Diese sollte fortan alle Einsätze von scharfen Waffen untersuchen.

Allein die Formulierung des Auftrages der „Schussko“ ließ Schlimmes ahnen: „ [...] zur Verhinderung voreiliger, unvollständiger oder widersprüchlicher Stellungnahmen und Verlautbarungen“. Nach den tödlichen Schüssen in den Rücken des 18-jährigen Einbrechers Andreas Piber wurde die „Schussko“ 1983 aufgelöst. Im Prozess gegen den Todesschützen hatten sich die hochrangigen Mitglieder der Kommission so in Widersprüche verstrickt, dass gegen sie selbst ein Ermittlungsverfahren wegen Meineids und Falschaussage eingeleitet wurde.

Die Handhabung der Waffe und die rechtlichen Grundlagen für den Einsatz werden im Rahmen der Polizeiausbildung gelehrt. Während seines Berufslebens muss jeder Beamte mindestens zweimal jährlich an einem Schießtraining teilnehmen. Der Munitionsbedarf für die Übungen ist auf 3,35 Millionen Schuss pro Jahr limitiert. „Wünschenswert wäre der doppelte Verbrauch“, sagt der Waffenexperte Bergemann. Aber mehr gebe der öffentliche Haushalt nicht her.

Geübt wird auf einem der 25 polizeilichen Schießstände in der Stadt. Dazu kommen vier Videosimulationsanlagen, in denen unvorhersehbare Ereignisse im Einsatz trainiert werden. Während Länder wie Nordrhein-Westfalen oder Brandenburg über modernste Computersimulationsanlagen verfügen, müsse sich die Berliner Polizei mit einem „Schießkino für Arme“ begnügen, kritisiert Hundt die unzeitgemäße Schießausbildung. Schutzpolizeichef Piestert kann dem Mangel etwas Gutes abgewinnen: „Häufiger zu schießen kann auch dazu führen, lockerer mit der Waffe umzugehen.

Im Gegensatz zu den Simulationsanlagen wird in den Schießständen mit scharfer Munition auf Zielscheiben und lebensgroße Körpersilhouetten geschossen. Die rein statischen Schießübungen aus dem Stand gelten aber als überholt. Angesichts der steigenden Zahl von Polizisten, die im Dienst verletzt werden, soll das Augenmerk beim Umgang mit der Waffe zunehmend auf die Eigensicherung der Beamten gelegt werden. „Bist du nicht vorbereitet, bist du zweiter Sieger - im Zweifelsfall tot“, möchte Bergemann den Beamten ins Stammbuch schreiben. Eine Arbeitsgruppe unter seiner Leitung hat daher eine neue Anweisung für das Jahresschießtraining mit einem Eigensicherungstraining ausgearbeitet.

Pate gestanden für das Projekt hat eine Schießanlage in der Direktion 1 in der Weddinger Pankstraße. Dort wird das neue Training schon seit Anfang 1999 praktiziert. Junge Sprayer haben den Raum für die Polizei mit Graffiti optisch und ambienmäßig zu einem Hinterhof umgestaltet. (Siehe Text unten)