Rituale und Relikte

Das antiprogressive Festival „young-euro-classic“ ist ein treffliches Beispiel für den Albdruck des bürgerlichen Erbes, der auf neuer klassischer Musik liegt. Musikalische Höhepunkte und junge Komponisten, die so schnell nicht wieder erscheinen werden, lassen die Wut auf dieses Umfeld verblassen

Es gibt viele gute Gründe, keine klassische Musik zu hören. Klassik ist weder cool noch sexy. Und mit Beethoven kann man nicht einmal richtig kokettieren. Das Konzert und seine Rituale sind Relikte des 19. Jahrhunderts, die noch heute den Geist des Bürgertums verströmen. Man sieht sich ausgesetzt: einem selbstgerechten Kunstverständnis, blinder Verehrung des Muckertums und einem kennerhaften Publikum.

Wie schwer der Albdruck des bürgerlich-konservativen Erbes auch auf der neuen klassischen Musik lastet, die sich sonst eher als linke Musikkultur etabliert hat, erfährt man dort, wo Veranstalter ihre Konzerte betont antiprogressiv ausrichten. Das Festival „young-euro-classic“, das vergangenen Freitag begonnen hat und für das noch bis zum 19. August europäische Jugendorchester in Berlin gastieren, ist da ein treffliches Beispiel.

Zum Veranstaltungsort für das Festival hat man das Konzerthaus erwählt. Und der Saal passt mit seinem prunkenden Neobarock ganz wunderbar zum festlichen Rahmen. Dass man in diesem Raum mit seiner verwischten Akustik Musik so recht kaum zu hören vermag, hat schon andere nicht gekümmert. Der Eröffnungsabend wurde als eine Gala inszeniert. Die Vorstandschefs menschenfressender Automobilkonzerne und hauptstädtische Oberbürgermeister lesen schale Wörter wie „Völkerverständigung“ aus ihren schlecht geschrieben Reden.

Als Dirigenten hat man den Komponisten Krzysztof Penderecki gewinnen können. Penderecki, der sich in den Siebzigerjahren vom Neuerungsethos der Avantgarde lossagte und der sich seither in neoromantischer Beschaulichkeit aalt, wird von der konservativen Musikwelt mit Eifer verehrt.

In seinem Bratschenkonzert, das am Freitag in einer Fassung für Violoncello zu hören war, reiht Penderecki pathetische Floskeln aneinander, während er dem Solisten technisch knifflige Passagen überantwortet, die in ihrer Virtuosität nicht nur nicht über Paganini hinausweisen, sondern diesem auch musikalisch wenig hinzuzufügen haben.

Für jedes Konzert hat man einen „prominenten Paten“ ernannt, wohl damit die jungen Musiker auch jemanden haben, zu dem sie aufschauen können. Ganz wunderbar leichtherzig und so gar nicht vorbereitet gibt sich am Samstagabend ein jung-schleimiger Erfolgsmakler (Markus Koch), der seine Philosophie aus der Börsenküche ausbreitete. Er wurde vom Saal kurzerhand ausgeklatscht, bis er seine Rede abbrach und das Podium verließ: der versöhnlich stimmende Auftritt eines mündigen Publikums.

Am Ende der ersten beiden Abende hat es aber dann doch noch Musik geregnet. Nachdem Pendereckis Bratschenkonzert enttäuschte, glänzte die Sinfonietta Cracovia entgegen dem Festivalkonzept am Freitag mit Schostakowitschs sechster Sinfonie: in seiner musikantischen Unschuld keine unproblematische Interpretation, im konzentrierten Sich-kommen-Lassen der Musiker aber durchaus überzeugend.

Und auch das Konzert des Samstagabends, das vom Bundesjugendorchester bestritten wurde, nahm einen langen Anlauf. Bernd Alois Zimmermanns „Stille und Umkehr“ wurde unbeholfen abgestottert. Und noch der erste Satz der neunten Sinfonie von Gustav Mahler vermittelte den Eindruck, das Orchester habe sich übernommen: der Kopfsatz wurde exekutiert und hier und da mit hohlem Pathos ausstaffiert. Erst im Finale kamen Orchester und der Dirigent Roberto Paternostro überein, dem Stück seine Dramaturgie noch abzuringen und das Konzert zu einem glücklichen Ende zu führen.

Die musikalischen Höhepunkte lassen die Wut auf das triefende Umfeld des Festivals verblassen. Und sie erinnern daran, dass es wohl doch Konzerte geben wird, die nicht zu hören ein Verlust wäre. Denn zum einen bietet das Festival Gelegenheit, Werke von jungen, vor allem osteuropäischen Komponisten zu hören, die so schnell nicht wieder auf einem Spielplan erscheinen werden. Darüber hinaus versprechen Konzerte, wie dasjenige des Ensembles Resonanz (11. August) mit einem Streifzug durch eine weibliche Avantgarde und dasjenige des Hermann-Scherchen-Jugendorchesters (15. August) mit selten zu hörenden Kolossen der jüngeren Orchesterliteratur – darunter „Eisengießerei“ aus Alexandr Mossolows Ballett „Stahl“ – den abendlichen Gang ins Konzerthaus vielleicht doch noch erträglich bis lohnenswert zu machen. BJÖRN GOTTSTEIN

Vollständiges Programm unter www.young-euro-classic.de