No sleep til Wacken

Auf dem größten Heavy-Metal-Festival der Welt klappern die alten Knochen

Augenscheinlich lebt der Flecken ein ganzes Jahr lang von diesem Schwermetall

Jetzt haben wir es endlich schwarz auf weiß! Das nämlich, was alle Besucher des Wacken Open Air all die Jahre schon vermutet und verbreitet haben, weil es einfach zu schön ist, um unwahr zu sein: Wacken ist die Nummer 1, das heißt „the biggest Heavy-Metal-Festival of the world“. So trompeten es jedenfalls die Macher vom „W:O:A Office“ mit geschwellter Brust hinaus, und die müssen es schließlich wissen. Wir wären freilich auch hingefahren, wenn es nur zum zweit- oder drittgrößten gereicht hätte, aber so ist es natürlich umso schöner! Denn einmal im Jahr sich so richtig die Ohren und das, was dazwischenhängt, durchpusten zu lassen, das tut gut, das ist auch und nachgerade in seelenhygienischer Hinsicht von einigem Belang und Wert. Schon die mehrstündige Autofahrt ins norddeutsche Küstenvorland wird zum Abenteuerausflug à la Fähnlein Fieselschweif, weil mein guter Freund Helge den Fahrdienst übernimmt und seine Sache so gut macht, wie man es von einem Death-Metal-Fan einfach erwarten darf. Kurzum, wir kommen recht zügig voran. Gleich hinter Hamburg passieren wir ein Schild: „Stauberatung 500 m“. Helge lacht einmal hart auf, und es klingt, als würde man eine Pistole durchladen, und dann schert er auch schon wieder aus auf die linke Spur, um aber doch noch, kaum mehr erwartbar, einen Kommentar hinterherzuschicken: „Saugute Idee, wenn es nicht mehr geht, setzt du dich einfach für ne Stunde in die Gesprächstherapie, und schon bist du wieder absolut stautauglich.“ Ich will etwas antworten, aber mir fehlt schier der Atem dafür, starre nur wie paralysiert auf die zitternde Tachonadel. Offensichtlich geht es ihr genauso wie mir.

Nachdem wir von den hier ansässigen Dörflern im roten Ordner-Ornat – augenscheinlich lebt der kleine Flecken ein ganzes Jahr lang von diesem Schwermetall-Großereignis – einen Zeltplatz zugewiesen bekommen haben, treffen wir uns mit zwei weiteren Freunden, den Gebrüdern Wartusch. Ich mustere den jüngeren der beiden eine Weile, denn die zerlatschten blauen Bundeswehrturnschuhe, die etwas hochbündige Jeans und das grüne verquanzte Hemd kommen mir bekannt vor – eben, vom letzten Jahr! Nun, das Wacken-Festival ist eine sehr, sehr traditionalistische Veranstaltung, das muss man schon sagen, man kann es allerdings auch übertreiben. Aber gerade als ich mich anhand der „Running Order“ vergewissere, dass auch heuer der gute alte 80er-Jahre-Metal – Motörhead, Saxon, Overkill, Rage et alii, die klassische Einfalt mithin –, wieder einmal seine Vormachtstellung behauptet hat, werde ich doch eines Besseren belehrt: Man kann es eben nicht übertreiben in Wacken, hier ist Outriertheit Methode. Die Nachbarzeltburg nämlich beschallt sich und uns mit einer Kompilation aus alten Porno-Film-Trailern der Traditionsfirma Ribu.

Unter großem Jauchzen und mit schönen Slogans wie „Hass, Begierde, Korruption ... es ist ein harter, aber geiler Weg“ lernen wir nach und nach die alten Genre-Abräumer „French Satisfaction“, „Wild Play Girls“, „Hard Erections“ etc. kennen. Warum nicht? Nur kurze Zeit später strolchen auch ein paar junge Kuttenträger an den Zelten vorbei, mit lauten Stimmen singend: „Siegfried und Roy, hoi, hoi, hoi.“

Immer und immer wieder diese Verse. Das interessiert mich jetzt aber doch, also eile ich ihnen nach und frage, ob ihr Gesinge politisch motiviert sei – als sottisenhafter Kommentar zur Homo-Ehe etwa. Aber der Gefragte schaut mich nur kurz an, seine sehr tief hängenden Augenlider machen es ihm nicht gerade leicht, dann dreht er sich wieder um: „Siegfried und Roy, hoi, hoi, hoi.“ Er kann nur noch diesen Satz. Und ohnehin wird es jetzt langsam Zeit fürs eigentliche Festival.

Ein wenig widerwillig werden wir Teil des riesigen Menschenzwirns und lassen uns durch das Nadelöhr des Eingangs fädeln. Kurzhaarige, kleine, aber dafür außergewöhnlich breite Männer mit weißen Chirurgenhandschuhen tasten uns ab, dann sind wir drin, und der hier herrschende akustische Fön trocknet unserer kleinen Gruppe sogleich den Mund aus. Wenn man sich so umsieht, die vielen ohnmächtig darniederliegenden, umherstolpernden oder sich in Schlammlöchern suhlenden Menschen bei ihrem unsinnigen Tun gewahrt, ahnt man, dass es ihnen genauso ging. Und dass sie in den vielen Hasseröder-Jurten Linderung suchten und fanden. Auch uns verschlägt es zunächst dahin, bevor wir uns dann doch noch an eine Bühne stellen und an die nächste und übernächste, um zusammen mit vielen tausend guten Freunden diese eine gewaltige Luftgitarre zu malträtieren. Bis wir so gegen 2.30 Uhr nicht mehr können und zurück ins nasskalte Zelt wanken, fünf Stunden lang mit den alten Knochen klappern, um auch den folgenden Tag so zu verbringen.

Als ich am Ende des zweiten Tages mit wirklich freiem Kopf zum Zelt gehe und nach einem Resümee suche, unterhalten sich vor mir zwei durch und durch dunkelbraun-verkrustete Gestalten, sie gehören mithin zur Schlammrutscher-Fraktion. „Und? Wie fandstes dies Jahr?“ „Ooch, gut, Scheiße nur, dass die hier alle so assig sind ...“ Ja, auch das ist Wacken. FRANK SCHÄFER