Die Maske des Lächelns

Die Ukrainerin Shanna Pintusewitsch-Block bringt Marion Jones aus den USA bei der Leichtathletik-WM ihre erste Niederlage über 100 m seit fast vier Jahren bei und gewinnt sensationell den Titel

aus Edmonton FRANK KETTERER

Marion Jones lächelte, aber nicht so, wie man es tut, wenn man glücklich ist. Das Lächeln von Marion Jones war kalt, eisig kalt. Es war ein Lächeln der Enttäuschung, eines, das man aufsetzt als Maske, wenn man etwas zu verstecken hat. Marion Jones hatte eine Menge zu verstecken: Frust, Wut, Niedergeschlagenheit, all die Dinge eben, die einem auf der Seele brennen und verdammt weh tun können, wenn man so grenzenlos enttäuscht wird, am meisten von sich selbst. Aber all das wollte Marion Jones nicht zeigen, nicht hier, nicht jetzt, nicht vor all diesen Menschen im Stadion und schon gar nicht später vor all den Journalisten, die sie belagerten und immer weiter ausfragten. Deshalb hatte Marion Jones sich entschlossen, im Moment ihrer größten Niederlage zu lächeln.

Und es war zweifelsohne die größte Niederlage ihrer sportlichen Karriere, die die schnelle Frau aus Palmdale bei der WM in Edmonton gerade erlitten hatte. Selbst der Schmerz über entgangenes Weitsprung-Gold bei Olympia dürfte kaum so sehr an ihr genagt haben, schließlich konnte sie sich in Sydney immerhin mit vier anderen Goldmedaillen trösten, die im Weitsprung war ohnehin von Anfang an eher Utopie – und Wunschdenken ihres Sponsors Nike. Diesmal aber, an diesem grausamen Abend in Edmonton, hatte man ihr, der Königin des Sprints, die Krone vom Haupt gerissen, völlig unverhofft und auf brutalste Weise. Vier Jahre oder 42 Rennen lang hatte die 25-Jährige auf der 100-Meter-Distanz, ihrer Lieblingsstrecke, nicht mehr verloren – bis am Montagabend Ortszeit die Ukrainerin Shanna Pintusewitsch-Block kam und sich jene Medaille umhängen ließ, die doch eigentlich für Jones reserviert schien. Eine solche Horrorgeschichte will erst einmal verkraftet sein, zumal von einem Menschen, der Verlieren nicht zu seinen Lebensgewohnheiten zählt. Marion Jones bemühte sich zumindest darum, tapfer wie ein Indianer war sie dabei, die zeigen ja auch keinen Schmerz, selbst wenn sie am Marterpfahl stehen. „Natürlich bin ich enttäuscht“, gab Jones zwar zu, mehr von ihrem Innenleben wollte sie aber auch verbal nicht preisgeben. Lieber flüchtete sie sich da in Floskeln: „Sie ist eine große Läuferin und sie hatte ein großes Rennen“, sagte sie etwa. Oder: „Es ist Sport, da passiert so etwas manchmal.“ Und dazu lächelte Miss Jones.

Wenigstens ist es in Weltjahresbestzeit passiert und war somit schnell vorüber. 10,82 Sekunden hatte Pintusewitsch-Block auf die rote Tartanbahn im Commonwealth-Stadium gelegt, 10,85 Sekunden lediglich Marion Jones. „Wenn man Marion schlagen will, muss man alles perfekt machen. Ich habe alles perfekt gemacht“, schwärmte die Siegerin über ihren Gold-Lauf, schon im Halbfinale hatte sie dafür geübt und die Amerikanerin knapp hinter sich gelassen, 10,94 zu 10,95 war es ausgegangen. „Da habe ich gemerkt: Mensch, da ist was möglich, das kann was werden“, erzählte die 30-Jährige.

All zu fest daran geglaubt scheint sie dennoch nicht zu haben, die Ehrenrunde jedenfalls musste Pintusewitsch-Block vorzeitig abbrechen, weil Weinkrämpfe sie schüttelten, Weinkrämpfe des Glücks. „Alles, was ich seit 1997 in den Sport investiert habe, habe ich heute zurückbekommen“, beschrieb sie später jenes Gefühl, dass sie kurzzeitig überwältigt hatte. Und dass sie ausgerechnet diese Jahreszahl nannte, war ganz bestimmt kein Zufall: 1997, bei der WM in Athen, war die Ukrainerin, die vor zweieinhalb Jahren den US-amerikanischen Sportmanager Mark Block ehelichte und seitdem außerhalb ihrer Heimat lebt und trainiert, strahlende Siegerin über 200 Meter geworden, aber auch untröstliche Zweite. Über die halbe Distanz hatte sie sich damals nämlich ebenfalls schon als Siegerin gefühlt, als ihr auf der Ehrenrunde erst mitgeteilt wurde, dass doch noch eine andere, ohnehin die Favoritin, vor ihr über den Zielstrich gestürmt war: Marion Jones.

So hat sich in diesem denkwürdigen 100-m-Finale von Edmonton also auch ein Kreis geschlossen, als die große Revanche der Vergangenheit aber wollten beiden Frauen ihr Rennen nicht verkaufen, zu sehr waren Marion Jones und Shanna Pintusewitsch-Block mit der Gegenwart beschäftigt und ein bisschen mit der Zukunft, schließlich stehen noch die Rennen über 200 Meter an. Shanna Pintusewitsch-Block weiß noch nicht, ob sie daran teilnehmen soll, schließlich hat sie hier ja schon mehr erreicht als je erträumt und dabei wohl auch etwas an Spannung verloren. Marion Jones hingegen ist sich ganz sicher, dass sie über die 200 Meter starten wird. „Die Niederlage wird mich dafür motivieren“, sagte die große Verliererin des Abends – und lächelte dabei.