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stefan kuzmany über ChartsWir kennen uns doch! Denk nach!

Die Welt ist voll von dreisten Zeitgenossen. Sie sind überall. Manchmal kommen wir sogar ins Gespräch

Der Mann vor dem Karstadt am Berliner Hermannplatz lächelte freundlich. Ich stellte gerade mein Fahrrad ab und wollte es an eine Laterne schließen.

– Wie geht’s?– Gut, danke.– Erinnerst du dich an mich?

Der Mann vor dem Karstadt am Hermannplatz war vielleicht fünfzig Jahre alt. Am Hinterkopf hatte er kaum noch Haare, das konnte ich sehen, denn er war wesentlich kleiner als ich. Dunkle, ergraute Haare, ein Schnauzbart. Ein cremefarbenes Sakko über einem rosa Poloshirt, dazu eine helle Hose und Lederslipper. Er wartete auf eine Antwort, und weil er dabei mit offenem Mund lächelte, blitzten einige Goldzähne aus seinem Oberkiefer. Ich kannte diesen Mann ganz sicher nicht. Ich hatte ihn höchstwahrscheinlich noch nie gesehen.– Erinnerst du dich an mich?– Nein.– Denk mal ein bisschen nach.

Er schien sich so verdammt sicher zu sein, dass ich mich an ihn erinnern müsste. Ich musste diesen Mann offenbar kennen. Vielleicht hatte ich ihn vergessen. Vielleicht war er mir mal vorgestellt worden, vielleicht hatten wir uns mal im Zug gegenübergesessen, vielleicht zusammen gearbeitet, irgendwann, in irgendeinem Zusammenhang, vor vielen Jahren, wer weiß das schon? Ich jedenfalls nicht.– Ich habe keine Ahnung.– Komm, jetzt denk mal nach.

Ich schwieg. Ich war guten Willens. Es konnte ja sein. Ich dachte nach. Offenbar nicht genug. Denn er, noch immer aufmunternd lächelnd, forderte mich noch mal auf. Diesmal mit kleinen Hilfestellungen.– Denk mal nach: Krankenhaus? Einkaufen? Arbeit?– Krankenhaus kann es nicht sein.– Krankenhaus nicht, ja.Er war nicht mein Obsthändler und auch nicht mein Dönerverkäufer.

– Vom Einkaufen kenne ich Sie auch nicht. – Einkaufen auch nicht, ja, ja.– Ich arbeite bei der taz.– Bei der taz, ja! Hallo!

Freudig erregt reckte der Mann mir seine rechte Hand entgegen. Bei mir war endlich der Groschen gefallen, so sprach es aus seinen Augen und seiner Gestik. Dabei war überhaupt nichts gefallen. Ich kannte ihn immer noch nicht. Dieser Mann hatte niemals bei der taz gearbeitet; ganz sicher jedenfalls nicht mit mir zusammen. Aber genau das machte die Konversation immer interessanter. Was wollte er? Das konnte noch ein wirklich hübsch absurdes Kommunikationserlebnis werden. Ich ergriff die angebotene Hand. Er schüttelte die meine dreimal heftig und lachte herzlich dabei. Ein frohes Wiedersehen.– Hallo, mein Lieber.– Hallo.– Mein Bruder ist gestorben.– Oh.– Gestern.– Aha.– An Nierenversagen.– Das ist schlimm.– Ja.– Tut mir Leid.– Ja, ja, danke.

Es schien ihn nicht wirklich zu bewegen, dass sein Bruder tot war. Über meine Beileidsbekundung, die ich, abgelenkt von meinem klemmenden Fahrradschloss, etwas beiläufig dahingemurmelt hatte, ging er ebenso beiläufig hinweg. Es entstand eine Gesprächspause, während ich mich mit dem Schloss abmühte. „Dave, das Gespräch hat keinen Zweck mehr. Es führt zu nichts. Leb wohl.“ Dieses Zitat aus Stanley Kubricks „2001 – Odyssee im Weltraum“ fuhr mir in den Sinn. Ob mein alter Bekannter das kannte? Hatten wir uns den Film gar gemeinsam angesehen? Quatsch. Das Fahrrad war jetzt endlich am Laternenmast angeschlossen. Ich schickte mich an, das Neppzentrum von Neukölln zu betreten. Das wollte mein alter Bekannter verhindern. Er lächelte jetzt nicht mehr.– Moment noch.

Plötzlich sprach er sehr schnell. Er blickte sich dabei um, als habe er Angst, jemand könne uns belauschen.

– Hast du eine Telefonkarte, damit ich Frau und die Kinder meines Bruders und unsere Mutter anrufen kann? Ja? Ich geb sie dir wieder, wenn wir uns das nächste Mal sehen. Danke!“

– „Ich habe keine Telefonkarte“, antwortete ich wahrheitsgemäß und ging fort.

Eigentlich hätte ich noch bleiben sollen. Es hätte mich interessiert, was der Mann vor dem Karstadt am Hermannplatz letztlich bezweckte. Wollte er, wenn ich in der Geldbörse nach der Telefonkarte suchte, mir diese entreißen und sich davonmachen? Wollte er tatsächlich Frau und Kinder und Mutter des so plötzlich verstorbenen Bruders anrufen? Aber es gab sicher keinen Bruder, auch vorgestern nicht. Ob er mit seiner dreisten Strategie jemals Erfolg hatte?

Als ich das Kaufhaus wieder verließ, stand der Mann immer noch da. Er war ins Gespräch vertieft mit einem jungen Mann, der gerade sehr, sehr ratlos dreinblickte.

Fragen zu Charts? kolumne@taz.de

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