Ärzte verordnen weiße Tücher

Aktionsrat der Kassenärzte ruft zu weiteren Protesten gegen das Arzneimittelbudget auf. Die Mediziner sehen sich als Prügelknaben für die Misere des Gesundheitssystems

„Ganz Berlin sieht Weiß“ lautet die Parole, mit der niedergelassene Ärzte und Psychotherapeuten in Berlin ab Herbst ihren Protest gegen die ihrer Meinung nach anhaltend miserable Situation im Gesundheitswesen vorbringen wollen. Zum Auftakt plant der Aktionsrat der Berliner Kassenärzte einen Aktionstag am 1. Oktober. Anstelle einer Streikwoche wie im März werde nun eine „neue Aktionsform ausprobiert“, so Anton Rouwen, Sprecher des Aktionsrates. „Als Zeichen des Protestes soll aus jeder Berliner Arztpraxis ein weißes Tuch herausgehängt werden.“ Auch Patienten könnten als „Solidaritätsadresse“ ihre Wohnungen weiß beflaggen.

Gründe für neue Aktionen gibt es aus ärztlicher Sicht genug. Zwei Streitpunkte haben für einen hitzigen Schlagabtausch zwischen den Krankenkassen und Vertretern der Kassenärzte gesorgt: Mitte Juli erfuhren 972 Ärzte, dass sie ihr Arzneimittelbudget für das Jahr 1999 um ein Viertel überschritten haben und teilweise sechsstellige Beträge an die Kassen zurückzahlen sollen. Letztere sind der Meinung, dass „unnötig teure Medikamente“ verschrieben wurden. Für manche Mediziner ist es schon die zweite Regressforderung in diesem Jahr. Im Frühjahr hatten über 800 Praxen erfahren, dass sie ihr Budget für das Jahr 1998 überschritten haben sollen.

Nicht alle der Betroffenen waren mit ihren Beschwerden bei der gemeinsamen Prüfinstanz der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) und der Krankenkassen erfolgreich. Besonders betroffen sind aus Sicht der KV Praxen, die schwer kranke Krebs- und HIV-Patienten behandeln. In der vergangenen Woche wurde bekannt, dass die Betriebskrankenkasse Berlin (BKK) und die Barmer Ersatzkasse (BEK) insgesamt 45 Regressanträge gegen Krebsärzte gestellt haben.

Die Kassen monieren, dass sie nicht für Medikamente aufkommen können, deren Zulassung sich nicht auf die jeweilige Krebsart bezieht. Demgegenüber argumentieren die Krebsärzte, bei über der Hälfte aller schwer kranken Patienten sei eine Behandlung mit Medikamenten sinnvoll, die außerhalb der zugelassenen Indikation stünden. Zum Schutz vor weiteren Regressforderungen rät die KV nun, alternativ verordnete Medikamente nur noch auf Privatrezept zu verschreiben. Damit entstehe eine „Zwei-Klassen-Medizin“, fürchten viele Ärzte.

Mit ähnlichen Problemen sehen sich auch HIV-Schwerpunktpraxen konfrontiert. Da zwei Drittel aller HIV-Patienten durch neue Therapien ambulant und nicht mehr in Krankenhäusern behandelt werden, fällt der Großteil der Kosten bei den Praxen an. Deren Budgets wurden bisher aber nicht erhöht. „Gesundheitspolitik auf Kosten der sozial Benachteiligten und ihrer Ärzte darf nicht sein“, appelliert der Kreuzberger Kardiologe Rouwen. HEIKE KLEFFNER