Milliarden im Kampf gegen Nebenwirkungen

Der Verkaufsstopp von Lipobay dürfte Bayers Gewinnspanne erheblich reduzieren. Die Zukunft des Chemiekonzerns ist ungewiss

BERLIN taz ■ Die Krise hat einen Namen: Lipobay. Nachdem der Chemiekonzern Bayer am Mittwoch seinen Cholesterinsenker mit diesem Namen vom Markt genommen hat, rauschte der Aktienkurs scheinbar unaufhaltsam in den Keller. Auf dem Papier ist das Unternehmen jetzt ein Viertel weniger wert: Lipobay vernichtete binnen 48 Stunden etwa 15 Milliarden Mark.

Doch nicht erst der Rückzug seines drittgrößten Produktes – mit dem Präparat gegen erhöhte Blutfettwerte setzte Bayer weltweit 2 Milliarden Mark um – bringt den zweitgrößten deutschen Chemiekonzern in starke wirtschaftliche Bedrängnis. Bereits im ersten Halbjahr war das Unternehmensergebnis um 23 Prozent eingebrochen. Als Ursache machte Bayer-Chef Manfred Schneider gestern bei der Vorstellung des Halbjahresberichtes „Probleme beim gentechnisch hergestellten Blutgerinnungsmittel Kogenate“ aus. Auch hohe Rohstoffkosten und Nachfrage-Rückgänge schlugen zu Buche. Schneider: „Die Entwicklung des Ergebnisses ist sehr enttäuschend.“ Durch die Rückholaktion von Lipobay wird es nun zusätzliche Gewinneinbußen von bis zu etwa 1,3 Milliarden Mark geben. Schneider erklärte auch, was das bedeutet. Im bislang besonders ertragstarken Arbeitsgebiet Gesundheit werde sich der Gewinn wahrscheinlich halbieren.

Bayer will nun mit einem umfangreichen Kostensenkungsprogramm aus der Krise kommen. Bis zum Jahr 2005 sollen die Kosten um knapp drei Milliarden Mark gesenkt werden. Programme, die Kostensenkung in ihrem Namen tragen, bedeuten immer auch Stellenstreichung. In diesem Falle sind weltweit 1.800 Jobs betroffen, 15 Produktionsstätten sollen dicht gemacht werden. Und wie immer bei solchen Ankündigungen beteuerte auch das Bayer-Management gestern, dass die deutschen Standorte von betriebsbedingten Kündigungen verschont bleiben sollen - zumindest bis zum Jahr 2004. Schneider suchte gestern Optimusmus zu verbreiten: „Bereits in den nächsten Jahren werden die Maßnahmen zu einer deutlichen Verbesserung der Ertragskraft führen“, sagte er. Allein im Arbeitsgebiet Gesundheit soll durch die Verkürzung der Entwicklungszeit von Medikamenten über eine Milliarde Mark eingespart werden.

Ein schmaler Grat: Immer wieder musste Bayer in den letzten Jahren teure „Ausfälle“ in seiner Forschungsabteilung hinnehmen. Das Problem mit den Nebenwirkungen ist in der Pharmabranche kein neues: Milliarden werden eingesetzt, um solche Effekte ihrer Wirkstoffe aufzuspüren. Gerade das Lipobay-Desaster wird jetzt aber dazu führen, dass sich die Anforderungen an klinische Versuche und Produktzulassung verschärfen werden. Das aber bedeutet, dass sich die gesamte Pharmaforschung weiter verteuert. Zudem wagen sich die Pharmazeutiker, beflügelt von der Biotechforschung, immer häufiger auf medizinisches Neuland.

Genau deshalb möchte Bayer auch an Lipobay festhalten. „In den kommenden Monaten werden wir unsere Untersuchungen fortsetzen, um das Nutzen-Risiko-Verhältnis von Cerivastatin zu bewerten“, erklärte David Ebsworth, der Leiter des Geschäftsbereiches Pharma. Bayer werde vor einer eventuellen Neuaufnahme der Vermarktung von Lipobay mit den zuständigen Behörden das weitere Vorgehen klären, so Ebsworth.

Vor 20 Jahren gehörte Bayer noch zu den zehn größten Pharmafirmen der Welt. Heute kann sich der 1863 gegründete Konzern nur noch deshalb in den Top 20 halten, weil sich die Zahl der Konkurrenten durchÜbernahmen stark reduziert hat. Bayers Umsatz von 12 Milliarden Mark entsprach im letzten Jahr einem Weltmarktanteil von gerade mal zwei Prozent. Der Verkaufsstopp habe „natürlich Auswirkungen auf unsere gesamte Pharmastrategie sowie die künftige Entwicklung des Konzerns“, erklärte Bayer-Chef Schneider gestern. Analysten glauben indes nicht mehr, dass sich Bayer als eigenständiger Konzern behaupten kann. NICK REIMER