Die Kür des platten Landes

Das „Alte Flandern“ wurde zur „Landschaft des Jahres 2001/2002“. Die Naturfreunde Internationale (NFI) will damit im flandrischen Hinterland einen sanften Tourismus anschieben und das Trauma zweier Weltkriege bewältigen helfen

von HENK RAIJER

Das Marketing stimmt in der Brasserie „Hommelpap“. Monsieur Beck, Gastwirt, Bauer und Bierbrauer in Personalunion, steigt behände auf den Hocker neben der roten Erntemaschine, die den Geräteschuppen seines Hofes beherrscht. Der Mittfünfziger, Jeans, ein Käppi auf den ergrauten Haaren, schlägt die Decke von einem Palettenstapel und enthüllt ein Fernsehgerät. Per Fernbedienung setzt Monsieur Beck das Video in Gang. Der Film zeigt Anbau, Ernte und Verarbeitung von „Hommel“, wie hier in Flandern der Hopfen genannt wird.

„Au pied des collines“ (am Fuß der Hügel) im französischen Teil Flanderns betreibt das Ehepaar Beck neben einer ökologisch ausgerichteten Landwirtschaft und einem Gästehaus eine handwerklich geführte Brauerei. Auf 35 Hektar Familienbesitz bauen sie neben Gerste, Mais und Kartoffeln seit zwanzig Jahren auch Hopfen an, jene ausdauernde Kletterpflanze, die am Laufdraht bis zu zehn Meter hoch wachsen kann und deren Frucht das gelbliche Pulver Lupulin enthält, das dem flämischen Bier seinen typischen Geschmack verleiht. Versehen mit dem hauseigenen Label verlassen heute jährlich 12.000 Literflaschen „Hommelpap“ (Hopfenbräu) den Hof in Bailleul, etwa 30 Kilometer westlich von Lille. „Wir wollten damals in der Krise unsere Landwirtschaft nicht intensivieren, sondern diversifizieren“, sagt Brauer Beck.

Unternehmer wie die Becks, die ökologische Produkte, Quartiere und Verpflegung anbieten, passen ins Profil der Naturfreunde Internationale (NFI), die das von Jacques Brel besungene „flache Land“ an der Nordseeküste mit seinen Dünen, Poldern und Kanälen im Juni zur „Landschaft des Jahres 2001/2002“ gekürt hat. Prämierte „Landschaften“ sollen ökologische Bausteine eines neuen Europa sein: eines Europa, das ohne Grenzen, sozial und offen ist und nachhaltig wirtschaftet. Die Philosophie der NFI-Aktion „Landschaft des Jahres“ ist es, die Aufmerksamkeit der europäischen Öffentlichkeit jeweils auf eine bestimmte grenzübergreifende Region zu lenken, die eine „exemplarische ökologische Bedeutung“ hat und „in besonderer Weise gefährdet und schützenswert“ ist.

Als Flanderns Naturfreunde ihren Antrag lancierten, gab sich die NFI-Zentrale in Wien zunächst reserviert. „Was sollen wir da, dachte ich, das Gebiet ist doch langweilig“, erinnert sich NFI-Generalsekretär Manfred Pils. „Bald jedoch sind wir zu der Einsicht gelangt, dass die Intensivierung der Landwirtschaft, der überbordende Transitverkehr und der Massentourismus an der Nordseeküste langfristig das Überleben dieser Region bedrohen“, so Pils. „Wir wollen die nächsten zwei Jahre das Bewusstsein für den Wert der Natur- und Kulturlandschaften im Hinterland der Küste stärken, einen sanften Tourismus anschieben und wegen des Traumas zweier Weltkriege Friedenserziehung fördern.“

Das von der NFI deklarierte „Alte Flandern“, das Dreieck zwischen Dunkerque, Lille und Brügge, hat mehr zu bieten als Strände, 400 Biersorten, burgundische Lebensart und schnucklige Städtchen mit mittelalterlichem Flair. Und das auch aus traurigem Anlass. „Im flämischen Hinterland sind wir vor allem auf Kriegstouristen angewiesen“, meint Stefaan Gheysen, Tourismusdirektor der belgischen Provinz Westflandern.

Vier Jahre lang war die Region um Ieper und Diksmuide im Ersten Weltkrieg Schauplatz erbitterter Kämpfe zwischen kaiserlichen Truppen und Soldaten des britischen Commonwealth. Durch die Flutung der Ijzer im November 1914 blieb der Krieg im Schlamm stecken. Die mittelalterliche Festungstadt Ieper mit ihrer gotischen Kathedrale und der berühmten Tuchhalle aus dem 14. Jahrhundert wurde vollständig zerstört, später immerhin detailgetreu wieder aufgebaut. Eine halbe Million Menschen ließ hier auf wenigen Quadratkilometern ihr Leben im Stellungskrieg von 1914/1918.

Nahe Diksmuide befindet sich der Soldatenfriedhof Vladslo, auf dem über 25.000 Deutsche bestattet wurden, darunter der 1914 gefallene Sohn der Künstlerin Käthe Kollwitz. Sie ließ 1932 nahe seinem Grab die Statue „Trauerndes Elternpaar“ aufstellen. „Hauptattraktion“ jedoch sind die 160 britischen Soldatenfriedhöfe. Über 120.000 Briten pilgern jährlich zu den Gräbern ihrer gefallenen Väter und Großväter. „Wir wollen Besucher von überall mit der Kraft dieser geschundenen Region bekannt machen“, sagt Stefaan Gheysen. „Aus Heldenverehrung sollte Friedenserziehung werden. Aber wir müssen auf die Wünsche der Briten Rücksicht nehmen.“ Die Region lebe schließlich davon.

An Friedenserziehung im Sinne der NFI gemahnt der Zapfenstreich unter der Meensepoort nicht unbedingt. Seit 1929 wird unter den Gewölben des Torbogens von Ieper allabendlich um 20 Uhr „The Last Post“ geblasen. Das im Auftrag der „Army of the British Empire“ errichtete monumentale Tor im Stil eines römischen Triumphbogens markiert die Stelle, an der britische Soldaten zur Front ausrückten. Steintafeln tragen die Namen der über 50.000 Soldaten, die bei der Verteidigung der Stadt gefallen sind.

Kurz vor 20 Uhr ist die Meensepoort fest in britischer Hand. Ein jugendlicher Mofafahrer gibt ein letztes Mal Gas, genießt den Hall, den er hervorruft. Dann sperren Soldaten, Pilger und Schaulustige die Zufahrtstraße an der Grachtseite ab, am anderen Eingang haben sich Angehörige des „Royal British Regiment, Yper Branch“ mit ihren Trompeten postiert. Ein alter Mann in Uniform senkt andächtig die Regimentsfahne. Eine Minute und zehn Sekunden lang erklingt „The Last Post“ für die Helden von Ieper. Zweite-Weltkriegs-Veteranen mit Barett und Lametta salutieren still, junge Soldaten legen an den Steintafeln Kränze ab. „We will always remember them“, gibt der Regimentsgeistliche vor, Pilger und Rekruten sprechen es nach. Ein letztes Mal wird aufgespielt, dann hebt der Veteran die Fahne, die Straße wird freigegeben, die Menschen treiben auseinander. Bis morgen.

Wohltuend kritisch hebt sich gegen derlei Empire-Nostalgie die Ausstellung „In Flanders Fields“ ab. In diesem Museum, das seit 1998 in einem Flügel der restaurierten Tuchhalle von Ieper untergebracht ist und mit modernsten Kommunikationstechniken arbeitet, wird der Besucher zum Soldaten, Bauern oder Kind, erlebt als Pfarrer oder Lazarettschwester die Schrecken des Krieges auf individuelle Weise nach. „Das Museum nimmt die Perspektive der Opfer ein“, sagt dessen Direktor Piet Chielens. „Aller Opfer, unabhängig von der Nationalität.“

Das „Alte Flandern“ hat aber nicht nur Kriegstourismus, sondern auch Natur zu bieten. Unmittelbar hinter der Skyline des populären Seebades De Panne an der belgisch-französischen Grenze etwa erstreckt sich das Naturschutzgebiet De Westhoek, mit 340 Hektar Fläche Teil des größten zusammenhängenden Dünengebiets an Flanderns Küste. Im Zentrum des Terrains, das auch „Kleine Sahara“ genannt wird, befindet sich eine fast unbewachsene Sandverwehung von mehr als 100 Hektar. Diese Wanderdüne hat seit dem 16. Jahrhundert über einen Kilometer zurückgelegt und bewegt sich auch weiter: mit einer Geschwindigkeit von 5–10 Metern im Jahr.

Erkunden lässt sich De Westhoek auf Wanderwegen, manche der insgesamt 11 Kilometer dürfen nur unter fachkundiger Begleitung begangen werden. „Einerseits wollen wir das Gebiet vor Massenandrang bewahren, zum anderen aber interessierten Besuchern etwas vermitteln“, sagt Westhoek-Führer Marc Leten, der, ausgestattet mit sämtlichen Attributen eines Nationalparkrangers, bereitwillig die großen Phasen der Dünenwanderung erläutert. Und die Folgen des Vordringens der Bebauung, die seit Anfang der Siebzigerjahre ungehemmt vonstatten ging.

„Seit Beginn des Massentourismus ist an vielen Stellen der Kontakt zwischen Meer und Dünen unterbrochen, der östliche Teil durch die Grundwasserausbeutung vertrocknet“, erklärt Marc Leten. „Um dieser Tendenz entgegenzuwirken, imitieren wir hier die frühere Polderlandschaft.“ Leicht sei es nicht, in einem Naturreservat Biodiversität und Spontaneität mit einander in Einklang zu bringen, so Leten. Aber Naturfreunde, die etwas anderes wollten als Strandurlaub, seien in „seinem“ Flandern stets willkommen.