Die Sehnsucht nach der Mauer

Touristen aus aller Welt strömen in die Stadt der Mauer. Doch „The Wall“ ist weg, ist unbegreifbar geworden. Auch die wenigen Reste können die Grusellust der Besucher nicht befriedigen. Aber es naht Rettung: Kunststudenten planen jetzt ein Duplikat

Die Reste werden mit der Hand beklopft, als ginge es um ostdeutsche Baukunst

von CHRISTIAN TERIETE

Carole Costelloe steht auf dem Bürgersteig an der Berliner Zimmerstraße und schaut missmutig auf die Asphaltdecke. Die kleine Engländerin mit dem runzeligen Gesicht ist enttäuscht. „Was sollen diese dummen Pflastersteine hier?“, fragt sie ihren Mann. Philip Costelloe hockt auf der Straße und fotografiert die schweren Brocken. In einer Doppelreihe zeichnen sie den Verlauf der Berliner Mauer nach. „Nicht besonders spektakulär“, seufzt der untersetzte Brite und erhebt sich langsam.

Die Engländer sind am Checkpoint Charlie auf der Suche nach der Mauer. Doch das Geburtstagskind fehlt bei der eigenen Party. 40 Jahre nach ihrer Erbauung ist die Berliner Mauer eine unsichtbare Sehenswürdigkeit. 300 DDR-Grenzsoldaten und 600 Pioniere der Bundeswehr haben ganze Arbeit geleistet, als am 13. Juni 1990 der offizielle Mauerabriss begann. Die schmerzende Wunde der Stadt sollte so schnell wie möglich geheilt werden. Deshalb wurde der Wenderuf „Die Mauer muss weg“ bis November 1991 in die Tat umgesetzt: mit 13 Bulldozern, 55 Baggern, 65 Kränen und 175 Lastwagen.

Nur sechs Teilstücke blieben als Mahnmale erhalten. Zwischen ihnen verraten die neu gelegten Pflastersteine den Mauerverlauf.

Aus Kostengründen hatte sich der Berliner Senat 1998 für diese augenfällige Lösung und gegen ein Kupferband entschieden. Trotzdem tun sich die Touristen mit dem Entdecken der erhofften Attraktion schwer. Orientierungslos tapsen viele am Checkpoint Charlie herum. Der einst Ausländern vorbehaltene Grenzübergang zwischen Ost und West ist heute nicht viel mehr als eine Straßenkreuzung zwischen den Stadtteilen Mitte und Kreuzberg. Immerhin steht auf der Mittelinsel ein Grenzerhäuschen hinter ein paar Sandsäcken. Allerdings nicht das Original. Die Replik wurde erst im letzten Sommer aufgestellt.

Auch angestrengte Blicke durch einen Bauzaun an der Friedrichstraße helfen nicht. Außer ein paar Sandhügeln gibt es nichts zu sehen. Dabei deutet doch alles darauf hin, dass die Mauer hier irgendwo sein muss. Etwa die kostenlosen Stadtpläne von der Touristeninformation. Auf denen schlängelt sich ein fiktiver Grenzwall aus roten Klinkersteinen durch Berlin.

Oder die Hörstelle an der Friedrichstraße: Aus dem Lautsprecher dröhnt der Jubel hunderter Berliner. Ein alter Radiobeitrag über Kennedys Besuch am Grenzstreifen 1963. Der Wind verteilt die Stimmung von damals über die Kreuzung am Checkpoint. Kennedy ist längst tot, aber irgendwie scheint die Vergangenheit greifbar zu sein. Vielleicht ist gerade das so verwirrend.

Die meisten Touristen gehen irritiert umher, machen beinahe verzweifelt Fotos von dem Mauersegment, das verloren am Eingang des „Mauer-Museums“ steht. Endlich ein Stück echte Mauer. Alessandro Cafiso ist trotzdem nicht zufrieden. „Ich hatte mir die Mauer viel dicker vorgestellt“, sagt der Römer. Verwundert folgt er auf dem Stadtplan den breiten Kurven einer blauen Linie. Die Spree.

Andere nehmen die Geschichte zur Hilfe: Ein bayerisches Paar hockt vor einer Infotafel mit einer ausgebleichten Luftaufnahme des Checkpoints. Sie übersetzen das Foto anhand von Straßenverlauf und Fassaden in die umgebaute Gegenwart. Foto, Straße, Foto, Straße, die Blicke wandern hin und her, ein paar Worte und Gesten, dann sind sie in den Sechzigerjahren angekommen.

Auch Troy Stevenson kommt mit der verschwundenen Sensation nicht klar. Was er denn in Berlin unbedingt habe sehen wollen? „The Wall“, antwortet der junge Mann aus Arizona. Das sei doch wohl klar. Wenigstens konnte er in einem Souvenierladen ein bisschen Mauer kaufen: ein Bröckchen mit Farbresten im kleinen Tütchen für fünf Mark.

Im Internet hätte er sich das Andenken auch bestellen können. Über eine amerikanische Homepage, die den antifaschistischen Schutzwall in abgepackten Einzelteilen vertreibt. Troys Tütchen hätte dort 75 Dollar gekostet.

Das Geschäft mit den geschichtsträchtigen Steinen läuft prima in den Souvenirshops am Checkpoint Charlie. Mauerreste verkaufe sie täglich, sagt die Kassiererin im Andenkenladen. Einmal im Monat auch größere Brocken für 700 bis 800 Mark. Und alle zwei, drei Jahre will jemand ein ganzes Segment. Das kostet 15.000 Mark. Internet, Läden, Vertrieb: in Berlin steht keine Mauer mehr, aber in aller Welt gibt es Teile von ihr. Ob die Käufer in den Shops am Checkpoint die Mauer auch begreifen? Ihre Reiseführer geben sich jedenfalls alle Mühe, der Phantasie auf die Sprünge zu helfen.

„Dramatic“ seien die Fluchtversuche gewesen, steht in einem Berlin-Guide aus Hongkong. Er liest sich wie ein Drehbuch für den nächsten James Bond. Touristen aus Australien und Neuseeland erfahren in ihrem Reiseführer von der „Etablierung des Unmöglichen“, von „kaum vorstellbaren Dramen“ am Grenzstreifen. Die Schilderungen sind reißerisch und blutig, wollen Mauerschüsse und Panzerketten hörbar machen.

Kein Wunder, dass sich am Checkpoint Szenen abspielen, die ein wenig an Fernsehbilder von 1989 erinnern. Zwei junge Leute stehen sich am Grenzstreifen gegenüber. Das Mädchen auf der Ostseite verschränkt die Arme hinterm Rücken und lässt sich nach vorne sinken. Kuss. Der Junge hat es ihr im Westen nachgemacht. Dann fallen sie sich theatralisch in die Arme, als hätte 28 Jahre lang eine Mauer zwischen ihnen gestanden. Den Triumph über das Symbol der Trennung feiern auch ein paar italienische Fahrrad-Touristen. Als sie den Grenzstreifen überfahren, reißen sie ihre Arme in den Himmel, brechen in lautes Jubelgeschrei aus. Die euphorischen Berichte über den Mauerfall am 9. November 1989 haben auch in ihren Reiseführern nicht gefehlt. Damals hätten sie gerne in einem der stinkenden Trabbis gesessen, nun aber rollen sie auf Mountainbikes über die Grenzlinie, erleben die Sensation mit zwölf Jahren Verspätung. Sie tun so, als hätte ihnen die Mauer gerade noch den Weg versperrt.

Dabei werden sie von ihren Reiseführern korrekt informiert. „Die Mauer ist heute fast vollständig ausgelöscht“, lesen Amerikaner im „Rough Guide to Berlin“. Ein Besuch an der Mauer sei „nicht die Horror-Erfahrung, die einige Besucher erwarten“. Ein englischer Reiseführer behauptet: „Wo die Grenze einst verlief, stehen heute langweilige Neubauten.“ Im Michelin-Guide liest der Berlin-Reisende, dass „Woodpeckers“ die Mauer damals mit „Hammer und Meißel“ weggehauen haben.

13 Bulldozer, 55 Bagger und 54 Kräne haben die Berliner Mauer 1990 abgeräumt

Allen Beteuerungen zum Trotz: Die Besucher wollen eine Mauer sehen. Nicht ohne Grund ist im amerikanischen „Time Out Guide“ der Konflikt zwischen Ossis und Wessis ein großes Thema. Hier erfährt der Tourist von T-Shirts mit der Aufschrift „Ich will meine Mauer wiederhaben“. Mancher Reisende würde es bestimmt anziehen, wenn er dadurch nur zum Zeitzeugen werden könnte. Nicht weil er die Teilung Berlins begrüßen würde, sondern weil er sie schlimm finden möchte.

Wenige hundert Meter westlich vom Checkpoint in der Niederkirchnerstraße wird die Sehnsucht nach Heldentum deutlich. Hier, zwischen Berliner Abgeordnetenhaus und Martin-Gropius-Bau, kann man 200 Meter Originalmauer sehen. Mit der flachen Hand klopfen junge Franzosen auf den Beton. Anerkennende Blicke, als würden sie gleich die ostdeutsche Baukunst loben.

Einer nach dem anderen rütteln sie an einer rostigen Stahlstrebe, die aus dem weichgeklopften Mauerkern hervorgetreten ist. Auch sie wollen ein Stück zum Einstürzen der Berliner Mauer beitragen, nachträglich, obwohl dieses erhaltene Teilstück unter Denkmalschutz steht und eigentlich mit Gitterzäunen vor Touristen geschützt wird.

Stark angegriffen sind die Segmente bereits, an manchen Stellen Löcher, so groß, dass man durchklettern kann. Ein armseliger Anblick, der mit den Schrecken von damals offenbar nichts mehr zu tun hat. „Man kann ja sogar drumherum laufen“, beklagt sich Belinda Kickert aus Melbourne. Die Australierin hatte sich die Berliner Mauer undurchdringbarer vorgestellt. Aber das ist sie schon lange nicht mehr, nicht mal den Eindruck einer Hürde hinterlassen die Mauerreste.

Doch so richtig freuen will sich darüber in diesen Tagen kaum ein Tourist. Fotos von Pflastersteinen im Straßenbelag sind unspektakulär. Damit kann man die Nachbarn beim Diavortrag im heimischen Wohnzimmer kaum beeindrucken. Und Videobilder von historischen Plätzen, auf denen nicht mehr zu sehen ist, was dort vielleicht einmal zu sehen war, möchte auch niemand anschauen. Muss eine neue Mauer her? „Nein“, sagt Kyung Sook Lee. Die Koreanerin ist vielleicht die einzige Touristin, die sich über die unsichtbare Mauer freut. „Berliner und Koreaner hatten ein vergleichbares Schicksal“, glaubt die Frau aus Seoul. Sie erkennt in Ost- und Westberlin ein Vorbild für Nord- und Südkorea. „Zum Glück kann die Mauer nichts mehr abgrenzen und niemanden mehr einsperren“, sagt Kyung Sook. „Ich bin gegen eine Mauer in Berlin.“

Für andere naht Rettung: Zwei Studenten wollen demnächst das Berliner Klosterviertel einmauern. Mit einer 2,4 Kilometer langen Konstruktion aus weißem Stoff und Metall. Ihr Projekt heißt „Wall Effect“. Die Touristen werden es lieben. Endlich wieder eine Mauer in Berlin.