Die Aura des Einmaligen

Randy Newman 1978 im Rockpalast? Sollte kein Problem sein: Auch in Zeiten von MP3 boomt der Tauschhandel mit illegalen Mitschnitten von Konzerten – die älteste Geißel der Plattenindustrie findet immer mehr Anhänger und prominente Förderer

von THOMAS ÖSTREICHER

Einen Dreck schert sich die Tape-Trader-Szene ums Urheberrecht, schneidet munter Konzerte mit und tauscht, was das Zeug hält. Oberstes Gebot: alles gratis.

Das Wohnzimmer

„Klingt gut. Läuft’n da?“ – „Lou Reed, live in Hamburg, April 2000.“ – „Die Platte kenn ich gar nicht.“ – „Gibt’s auch nicht auf Platte. Die Aufnahme hab ich von einem Typen in Seattle.“ – „?“ – „Der hat sie wohl von irgendjemandem, der sie von jemandem in Deutschland hat, der . . .“ – „Verstehe. Ist das legal?“ – „Tja.“

Der Künstler

Lou Reed: „Als Musiker kannst du heute wenig gegen diese Piraterie ausrichten. Du kannst keinen davon abhalten, ein Konzert mitzuschneiden. Die Minidiscs sind so klein wie mein kleiner Finger, die Mikrofone sind noch kleiner. Und die Tonqualität von diesen Geräten ist unglaublich gut.“ – „Haben Sie als Fan jemals Bootlegs gekauft?“ Lou Reed: „Aber klar doch, was denken Sie denn? Außerdem habe ich sehr viele und unglaublich gute Bootlegs geschenkt bekommen. Ich verstehe schon, warum die Fans sich dieses Zeug besorgen.“ (Lou-Reed-Interview, Musikexpress, Mai 2000)

Die Klarstellung

Tape Trader sind alles andere als osteuropäische oder asiatische Massenfälscher regulärer Industrieware, auch wenn das Urheberrecht da keinen Unterschied macht. Trader sind Hardcorefans, die versuchen, an möglichst jeden Livemitschnitt und Outtake (einen aufgenommenen, aber für ein Album schließlich nicht verwendeten Titel) ihrer Lieblingskünstler zu kommen. Teils handelt es sich um selbst mitgeschnittene Konzerte, teils um Kopien schwarz gepresster „Bootlegs“, teils um zuvor nur Radio-DJs zugängliche Promotion-Stücke. Eine Flut gesuchter Aufnahmen erschließt sich dem Kundigen fast problemlos: das 69er Stones-„Concert In The Park“ ebenso wie R. E. M. in Köln im Mai 2001. Am liebsten wird getauscht, in der Regel 1 : 1 und verlustfrei auf CD-ROM kopiert, verschickt ganz konservativ per Post: die Doppel-CD „Lou Reed in Hamburg“ beispielsweise gegen zwei Stunden Velvet Underground 1993 in Prag. Und, bitte: MP3-Dateien sind verpönt.

Der Experte

Der Urheberrechtler Dr. Thorsten Braun vom Bundesverband der Phonographischen Wirtschaft e. V. argumentiert zunächst rein rechtlich: „Der Live-Mitschnitt eines Konzerts ist auch zum privaten Gebrauch nicht zulässig. Im Übrigen dürfen selbst legale private Vervielfältigungen nicht öffentlich angeboten oder getauscht werden.“ Doch weil Paragrafen wohl nur wenige beeindrucken, verweist Braun auf die „moralische Sicht: Der Künstler darf selbst entscheiden, ob seine Darbietung aufgenommen und veröffentlicht werden soll. Schließlich lebt gerade ein Konzert von der besonderen Live-Atmosphäre, die sich nicht immer auf einem Tonträger einfangen lässt. Dieses Recht des Künstlers missachtet, wer solche Mitschnitte anfertigt und verbreitet.“ Ob damit jemand Geld verdiene, sei egal, aber „natürlich zeigt derjenige, der Mitschnitte verkauft, ein höheres Maß an krimineller Energie.“ Und wieso tut die Phonowirtschaft kaum etwas dagegen? Die sinnvollen Schritte würden fallbezogen abgewogen, heißt es halb geheimnisvoll, halb versöhnlich. Doch, und da hebt sich der Zeigefinger wieder, „im Prinzip muss jeder Anbieter damit rechnen, ins Fadenkreuz unserer Ermittlungsabteilung zu geraten, auch wenn es letztlich nicht alle trifft“.

Der Spötter

„Copy Keeps Music“ – das Kopieren bewahrt die Musik – hat ein Tapesammler eine Webseite genannt, auf der er der Industrie eine lange Nase zeigt. Das Logo ähnelt dem der aussichtslosen Industriekampagne „Copy Kills Music“ gegen die so genannte Schulhofpiraterie und findet sich bereits auf einigen der liebevoll selbst gestalteten Covers privater Trader.

Der andere Experte

Die Veranstalter von Livekonzerten achten seit Jahren auf unerlaubte Mikrofone: kein Bob-Dylan-Gig ohne die Adleraugen bulliger Aufpasser vor der Bühne. „Stimmungskiller“ nennt sie der Autor und Dylan-Kenner Günter Amendt im Vorwort zu Paul Williams’ Musikbiografie „Like A Rolling Stone“. „Sie verbreiten Stress, lösen Adrenalinschübe aus und erreichen nichts. Mir ist nicht ein einziger Dylan-Auftritt in den vergangenen beiden Jahrzehnten bekannt, der nicht auf Tonband dokumentiert wäre.“ Beinharte Fans verfügen über buchstäblich Tausende verschiedener Aufnahmen. Das Gewissen? „Es ist nicht zu erkennen“, bilanziert Amendt nüchtern, „welcher Schaden einem Bühnenkünstler wie Dylan entstehen soll, wenn seine Shows mitgeschnitten und über ein internationales Netz von Interessenten kopiert und weitergegeben werden.“ Niemandem gehe Geld verloren: „In diesen Kreisen ist man selbstverständlich auch an allen offiziellen Veröffentlichungen interessiert, so dass private Publikums mitschnitte und offizielle Firmenpressungen sich keine Konkurrenz machen. Nur verliert der Künstler die Aura des Einmaligen und Nichtwiederholbaren.“

Andere Künstler

Die Westcoast-Rocker Grateful Dead erlaubten seit ihren Anfängen in den 60er-Jahren das Mitschneiden ihrer Konzerte durch Fans, von denen sich stets Dutzende eigens zu diesem Zweck nahe der Bühne versammelten. Counting-Crows-Sänger Adam Duritz ermuntert die Fans geradezu – er ist selbst Sammler. „Dave (Bryson, Gitarrist der Band) und ich sind die ganze Zeit auf der Suche nach guten Raubmitschnitten“, bekannte der Musiker in einem Internet-Chat mit Fans. „Das Radiohead-Bootleg ‚Data Complete‘ aus dem Avalon Ballroom in Boston ist unglaublich gut, ‚Studio Daze‘ von Led Zeppelin ebenso.“ In einem Interview staunte Duritz über die Schnelligkeit der Fans: „Es gibt einen fantastischen Bootleg-Laden in Dublin – meistens führen sie unsere Konzerte schon am nächsten Morgen. Sehr erstaunlich. Die Veröffentlichung von alten Demoaufnahmen dagegen finde ich Mist, aber ich verstehe, dass die Leute scharf drauf sind. Auch wenn mir heute die Haare zu Berge stehen, wenn ich sie höre.“

Der Weg

Tausende von Fans stellen ihre Bestands- und Suchlisten ins Internet. Eine mit den Begriffen „tape trade“ und dem Bandnamen gefütterte Internet-Suchmaschine führt meist schnell zum Erfolg. Der Haken: Da Musiktauscher weder kaufen noch verkaufen, muss man bereits Raritäten besitzen, um an welche zu kommen. Für den Anfang tun es aber alte Rockpalast-Aufnahmen oder aktuelle deutsche Radiokonzerte, an die man in anderen Ländern nur schwer kommt. Geld wird abgelehnt. Zum guten Ton gehören allerdings Coverkopien und Titellisten.

Die Gegenstrategie

Pearl Jam kamen Tape Tradern wie Profis zuvor: Die Band veröffentlichte vergangenes Jahr ihre komplette Welttournee selbst, auf billigen CDs in simplen Papphüllen. Über die Verkaufszahlen ist nichts bekannt.

Die Küche

„Ich finde, Tape Trading ähnelt Cannabiskonsum. Im Prinzip verboten, aber solange keiner damit die dicke Kohle verdient, wird’s toleriert.“

Letzte Frage

Besitzt irgendwer Randy Newmans Rockpalast-Auftritt vom 9. Mai 1978?

Internetadressen: www.tapetradernetwork.com, www.tapercities.com, http://log.on.ca/hotwacks/trade.html, www.rockpalastarchiv.de, www.ifpi.de