Ein Riss geht durch die Stadt

„Durch Gerüchte erfuhr die D. ihre Lage zuverlässiger als aus den Zeitungen ihres Staates. Fasslicher noch als eine Rundfunkstimme aus der Weststadt trug ein Blickwechsel zwischen Tür und Angel der Schwesternzimmer in ihrem Bewusstsein die Veränderungen der Grenze nach: wo Straßen aufgerissen wurden, vermauert, verdrahtet, verstellt, mit Hunden bewacht. Die Grenze war in die Erde gesenkt: die Stationen der Untergrundbahnstrecken, die mit der Weststadt Verbindung hatten, wurden verschlossen. Die Stadtbahn wurde nur auf zwei Strängen in den Westen gelassen, diese Bahnsteige waren Ausland für gewöhnliche Leute. Vor dem Riss zwischen den Städten flatterte ein gefährliches Netz aus Posten, Kontrollstreifen, Sperrstunden. Über den Dächern im dick verwolkten Himmel fielen die westlichen Flugzeuge in ihre Landekurven, stiegen auf in den nördlichen Luftkorridor nach Westdeutschland; jetzt waren sie unerreichbar.“

Aus: Uwe Johnson, Zwei Ansichten (1965)

„Herr Kabe, Mitte vierzig, arbeitslos, Sozialhilfeempfänger, fiel zum ersten Mal polizeilich auf, als er, von Westen Anlauf nehmend, die Mauer mitten in Berlin in östlicher Richtung übersprang. Dicht an der Mauer hatte er ein Gelände entdeckt, auf dem Trümmerreste eine natürliche Treppe bildeten, die er so weit hinansteigen konnte, dass er sich nur noch mit den Armen hochzustemmen brauchte, um sich auf die Mauer zu schwingen. Andere Berichte wissen von einem VW-Transporter, dessen Dach Kabe als Sprungbrett benutzt haben soll. Wahrscheinlicher ist, dass er auf diese Einfall erst später kam, als die Behörden seinetwegen Aufräumungsarbeiten veranlassten.

Oben stand Kabe eine Weile im Scheinwerferlicht der herbeigeeilten Weststreife, ignorierte die Zurufe der Beamten, die ihm in letzter Minute klar zu machen versuchten, wo Osten und wo Westen sei, und sprang dann in östlicher Richtung ab. Die Grenzer des anderen deutschen Staates nahmen Kabe als Grenzverletzer fest. Aber auch in stundenlangen Verhören ließ Kabe weder politische Absichten noch einen ernsthaften Willen zum Dableiben erkennen. [...] Seine Vernehmer wussten keine bessere Erklärung für diese merkwürdige Verkehrung der Sprungrichtung, als dass bei Kabe mehrere Schrauben locker säßen.

Aus: Peter Schneider, Der Mauerspringer (1982)

„Michael Kuppisch suchte immer nach Erklärungen, denn viel zu oft sah er sich mit Dingen konfrontiert, die ihm nicht normal vorkamen. Dass er in einer Straße wohnte, deren niedrigste Hausnummer die 379 war – darüber konnte er sich immer wieder wundern. Genauso wenig gewöhnte er sich an die tägliche Demütigung, die darin bestand, mit Hohnlachen vom Aussichtsturm auf der Westseite begrüßt zu werden, wenn er aus seinem Haus trat – ganze Schulklassen johlten, pfiffen, und riefen ,Guckt mal, ’n echter Zoni!‘ oder ,Zoni, mach mal winke, winke, wir wolln dich knipsen!‘. Aber all diese Absonderlichkeiten waren nichts gegen die schier unglaubliche Erfahrung, dass sein erster Liebesbrief vom Wind in den Todesstreifen getragen wurde und dort liegen blieb – bevor er ihn gelesen hatte.“

Aus: Thomas Brussig, Am kürzeren Ende der Sonnenallee (1999)

„Der volle Möbelwagen –

Walfisch schwimmt mit mir im Bauch

Das Stück Hannoversche.

Die Charité wird rechts passiert

Links Invalidenstraße durch den

Schlagbaum. Slalomschlauch

Wir schwimmen durch die

Grenze, und der Staatsrat salutiert

Spalier steht das Politbüro,

die Knarre präsentiert

Schon sind wir durch und drüben.

Mensch, wie leicht geht das!Da winkt auch schon ein Strand:

Der Ku’damm schillert regennassDer Fisch spuckt mich mitsamt den

Möbeln auf den Asphalt, halb verdaut

macht eine Wende, schwimmt

zurück. Ich such wie wild mein’ Pass

– das

ist mein Traum

vor dem mir

jeden Abend

graut

Aus: Wolf Biermann, Ballade vom Traum (1969)