Big in Berlin

Preußens Glanz, MTVs Gloria: „Hauptstadt“ heißt der Pop-Hype der Stunde. Nun zieht Universal an die Spree. Doch der Boom frisst bereits seine Kinder

„Berlinzwang“ ist das schöne Schlagwort, das Parlamentarier, Popliteraten und Plattenbosse aktuell umtreibt

von DANIEL BAX

Der Song des Jahres, er stammt von der Gruppe Seeed. „Dickes B oben an der Spree, im Sommer tust du gut und im Winter tut’s weh“, schallte es einem diesen Sommer allenthalben entgegen, mit fetten Bläsersätzen und wummerndem Dancehall-Bass tiefergelegt. Diese Mischung aus Großstadt-Romantik und Großmäuligkeit, die Berlin seit jeher kennzeichnet, in der Hauptstadt-Hymne der Hinterhof-Rudeboys fand sie ihre kongeniale musikalische Umsetzung: „Mama Berlin / Backstein und Benzin.“

Doch das Bild, das der Song von der Stadt zeichnet, ist fast schon ein nostalgisches. Der Backstein verschwindet Stück für Stück hinterm Spritzbeton, der Baustaub auf den U-Bahnhöfen weicht dem Vanillegeruch der Croissant-Schnellbackstuben, und wo vor kurzem noch Brandmauern klafften, füllen heute Bürokomplexe aus Chrom und Glas die einstigen Baulücken. Seit Berlin wieder als Regierungssitz fungiert, entwickelt es sich auch in Sachen Pop zum neuen Gravitationszentrum – eine Tendenz, die durch den fürs nächste Jahr angekündigten Umzug des Musikkonzerns Universal nun quasi amtlich wird. Auch MTV produziert schon einige Sendungen in Berlin, und als Drehkulisse steigt die Stadt nicht erst seit „Lola rennt“ im Kurs.

Als „Berlinzwang“ hat der Popschreiber Diedrich Diederichsen diesen Sog beschrieben, der selbst seinen Wohnort nach Berlin verlegt hat, wie auch viele andere. Heute ist es deswegen nichts Außergewöhnliches mehr, wenn sich an einem lauen Sommerabend vor einer Bar in Mitte Parlamentarier und Popliteraten gegenseitig auf die Schuhe treten oder auf einem Toilettendeckel ihr letztes Koks teilen. Die neue Mitte-Boheme kennt keine Parteien mehr, nur noch Hipster.

Wer in den letzten zehn Jahren nach Berlin gezogen ist, hat sich meist in den östlichen Bezirken niedergelassen, und auf den Ruinen der ehemaligen DDR entstand ein neuer Szene-Kosmos. Aus Kellerclubs und Wohnzimmerbars entsprangen Kleinlabels und Galerien, und wie im Zeitraffer gesellten sich Werbeagenturen und Start-Up-Firmen, Edelboutiquen und die Exzesse der Erlebnisgastronomie dazu. Es war, als sei nach dem Mauerfall mitten in Berlin ein Raumschiff gelandet.

An Versuchen, diese Aufbruchstimmung in Songzeilen zu fassen, hat es bisher nicht gefehlt. Ob das nun der Techno-Impressario Jürgen Laarmann war, der zur Melodie der Pet Shop Boys dem allegorischen „Berlin Mitte Boy“ ein Ständchen bringen ließ, oder Guildo Horn, der mit einem Berlin-Schlager auf den Hauptstadt-Zug zu springen versuchte, um seiner Karriere einen neuen Schub zu verpassen – bleibenden Eindruck haben diese musikalischen Ranschmeißereien bislang nicht hinterlassen. Auch die ironischen Widmungen der Sterne, die sich „Big in Berlin“ wähnten, oder Britta mit ihrer „Rock me in crazy Berlin“-Berlinsong-Persiflage kamen bislang nicht über den Radius von Insider-Scherzen hinaus. Erst den elf Offbeat-Musketieren von Seeed, die im Video in altmodischen Herrenanzügen und mit wirbelnden Spazierstöcken durch die Straßen der Stadt stolzierten, gelang es, den Jackpot zu knacken. Nun heißt es: Riddim is a Berliner.

Die Medien der Stadt schüren den Hype natürlich gerne, vom Boulevardblatt B.Z. bis zum öffentlich-rechtlichen Jugendradio Fritz. Unbedingt will man, nach hanseatischem Vorbild, eine Berliner Schule ausrufen. So regnet es CD-Sampler mit gewollt großspurigen Titeln wie „Berlinsoulstarvation“ oder „Berlin macht Schule“, von dem bereits zwei Teile existieren, oder die Doppel-CD „Familienangelegenheiten aus Berlin“, die historische Verbindungslinien bemüht und sich in Japan ganz gut verkaufen soll.

Die blasse Politik der Stadt ist dankbar für den unverhofften Glamour, den sie der Musikszene verdankt, und nutzt jede Gelegenheit, sich in diesem Licht zu sonnen. Wenn es nur dem Hauptstadttourismus dient, stellt sie auch keine unbequemen Fragen mehr, wie das Beispiel der Love Parade zeigt. Hier gilt die Devise: Raver der Welt, schaut auf diese Stadt. Und mit potenziellen Jungwählern will es sich ohnehin niemand verscherzen: Da drückt die CDU beide Augen zu, wenn unter der Siegessäule die größte Drogenparty der Welt steigt, und die Grünen akzeptieren es stillschweigend, dass der größte Park der Stadt alljährlich von trunkenen Menschenmassen zertrampelt wird. Standortpolitik geht über alles.

Zwei Millionen Mark hat es sich der Berliner Senat deswegen auch kosten lassen, Universal an die Spree zu locken. Nach Sony ist er nun schon der zweite Major-Konzern, der seine Zentrale dorthin verlegt. Und weil Universal-Chef Tim Renner eine gute Nase nachgesagt wird, was die Entdeckung lokaler Talente angeht, hat der Umzug besondere Symbolkraft.

Nicht alle freuen sich allerdings über den neuen Nachbarn. Manches kleine Label muss fürchten, dass seine Musiker verrückt spielen bei der Aussicht, bald vor einem Saal voller A&R-Exekutives aufzutreten. Die Angst vor Abwerbung und Ausverkauf, vor dem Verlust des Monopols auf die Berliner Nischen-Musikszene, sie ist nicht unbegründet. Aus dem Kellerloch ins Rampenlicht, das ist man in Berlin noch nicht so gewohnt. Und auch das eingespielt-inzestiöse Verhältnis zwischen Medien, Musikern und Plattenfirmen-PR, das für Hamburg so typisch ist, will erst noch eingeübt werden.

Etwas unpassend zur allgemeinen Berlin-Jubelstimmung scheint allerdings die Meldung vom gegenwärtig drohenden Clubsterben in Berlin. Gleich mehrere namhafte Orte schließen bald ihre Pforten, vom legendären Maria am Ostbahnhof bis zum Ostgut. So ernst ist die Lage, dass der umtriebige Flyer-Verleger Mark Wohlrabe gar eine „Club Commisson“ gründen will, um Lobbyarbeit für Clubs und Veranstalter zu betreiben. Doch die lokale Kulturpolitik dürfte nicht im Traum daran denken, neben drei Opernhäusern und der bröckelnden Museumsinsel in Zukunft auch noch ein paar der über 50 Clubs der Stadt zu subventionieren. Die Verdrängung hat begonnen, der Berlin-Boom frisst seine Kinder.

Das Gerücht des Jahres übrigens lautet: die PopKomm zieht bald nach Berlin. Hoffentlich bleibt es beim Gerücht.