Europa stirbt in Berlin

Der Balkan so nah: das Muschelmassaker von Sacrowje. Ein aufrüttelnder Weckruf

Wir dürfen nicht wegsehen, hat Rudolf Scharping gesagt. Was meint der Kriegsminister?

Am äußersten südwestlichen Stadtrand Berlins, da, wo bis 1989 die Grenze zwischen Gut und Böse verlief, liegt das Dorf Sacrow. Es hat einen See, ein Schloss und eine Heilandskirche, die zur stetigen, immerfort repetierten Empörung aller Freiheitsberliner von der Stasi als Beobachtungsposten genutzt wurde: Spitzel und Schergen im Hause Gottes – so pervers ist die Zone wirklich! Zwar gehört diese bizarre Kombination aus Geheimdienst und Jesus Christus seit langem der Vergangenheit an, doch noch heute vermag ein Besuch in Sacrow den Eindruck zu erwecken, man sei tieftief im Osten, quasi schon auf dem Balkan: nicht in Sacrow, sondern in Sacrowje.

Im See von Sacrowje entspannt schwimmend und tümmlernd, muss man nichts fliehen als den Zwangsjargon Berliner Hundebesitzer, die mit eigentümlich debilem Hund- und Baby-Sprech die Stille zerschreddern: „Ja Dicker, ja komm, ja wo isser denn, ja da isser ja!“ Erstaunlich, wie wenige Menschen ausreichen, um den trügerischen Schein der Idylle fortzuwischen. In einem Akt schonungsloser Ballina Aufklärung hellen sie den sentimentalitätsgetrübten Blick des naiven Betrachters desillusionierend auf. Was beinah paradiesisch schien, ist in Wahrheit eine gute alte Bekannte, eine treue Begleiterin: die Vorhölle des Hörenkönnens.

Ach wenn doch die Schöpfung vorgesorgt und uns die Möglichkeit anheim gestellt hätte, auf Wunsch schlagartig temporär zu ertauben, die Ohren einzurollen, mechanisch sie einzunüpseln und zu verschließen nach Gusto! So bleibt nur das Tauchen in die stille Tiefe des Sees. Mit den Händen den sandigen Boden ergründend, finde ich Muscheln, leere weiße Muschelschalen. Ich tauche kurz auf – „Ja hol das Stöckchen, ja wo iss denn das Stöckchen?“ –, schöpfe Atem, dann geht es zurück, auf den Grund. Es ist ein grausamer Fund, den ich mache: bleiche Muschelleichen sind übereinander getürmt, Dutzende, nein, Hunderte müssen es sein, viele von ihnen Greise, Frauen und Kinder. Nur langsam begreife ich das Unbegreifliche: Hier hat ein Massaker stattgefunden. Unschuldige Muscheln wurden ermordet und im Sand verscharrt, in einem Massengrab, hier, in Sacrowje. Von den Tätern fehlt jede Spur, doch längst ahne ich, wer die Schuldigen sind: serbische Miesmuscheln. Sie dürfen nicht davonkommen.

So schnell ich kann, kraule ich zum Ufer. Ich muss die Menschheit wecken aus ihrem Schlaf, sie aufrütteln aus ihrer Gleichgültigkeit. Wir dürfen nicht wegsehen, hat Rudolf Scharping gesagt. Was meint er? Darf ich den Fernseher nie wieder ausmachen? Ich weiß es nicht genau, also sehe ich überall hin, immerzu, die ganze Zeit. Da – was ist das? Unter der Weide, ganz nah am Ufer, treibt eine Babymuschel im Wasser. Tot! Schlagartig erfasse ich die ganze grausame Wahrheit: Rechtsradikale Süßwasserschnecken haben dieses Muschelkind ertränkt. Unter den Augen der Hundebesitzer. Die Feiglinge haben weggesehen und weggehört. Oder haben sie nur zu laut mit ihren Hunden gesprochen, um etwas mitzubekommen: „Ja hier das Herrchen, ja sicher, ja geh zu Frauchen, ja, ja“? Egal – wir alle sind schuldig, so oder so.

Ich stürze zum Telefon. Alarm! Wo ist die Weltöffentlichkeit? Wo sind die Schreie der Entrüstung? Gerade im Sommerloch könnte man sie schön laut und vernehmlich hören! Journalisten, Fotografen, Fernsehteams, wo seid ihr? In Sacrowje ist euer Platz. Ich geleite euch an den Ort des Schreckens. Der „Bombardiert Pale!“-Rufer Daniel Cohn-Bendit, der gewiefte Massengrabentdecker Erich Rauchmelder, der mordssensible Rudolf Scharping – wo sind sie heute? Wo sind die Reporter, die eine Kindsleiche ins Bewusstsein der Massen schwemmen? Nicht nur das Ansehen Deutschlands steht auf dem Spiel in Sacrowje, nicht nur Europa – in Sacrowje stirbt die Zivilisation. Muschelrecht ist Menschenrecht – Emotion, hier kommt sie schon! Wenn es um alles geht, muss jedes Mittel erlaubt und gerade recht sein: das Augenrollen, das Armefuchteln, das jaulende Tremolieren, die ersungene Meldung, allesamt legitime Waffen im Endkampf gegen das Böse, das mitten unter uns lebt, hier und heute, und das es zu vernichten gilt, zumindest medial.

Damit Sacrowje wieder Sacrow wird, eine blühende, friedvolle Heilandskirchenlandschaft, in der Muscheln kuscheln und Hundebesitzer Hunde besitzen: „Ja Dicker ja, ja so isses gut.“

WIGLAF DROSTE