„Vor der Wende war es hier ordentlicher“

Nirgendwo war die Teilung Berlins deutlicher zu sehen als an der Bernauer Straße zwischen den Stadtteilen Mitte und Wedding. Heute ist der Mauerstreifen übersäht mit Spuren dieser Vergangenheit. Ein Spaziergang

von HEIKE KLEFFNER

Der Liebhaber kommt aus Mannheim. Weil er nur ein Sommerliebhaber ist und das auch weiß, bittet er für das zweite Rendezvous um einen Ort mit der größtmöglichen Unwahrscheinlichkeit, auf Freundinnen und Kollegen zu treffen. Am alten Mauerstreifen neben der Bernauer Straße Händchen zu halten, findet er „irgendwie originell“. Schon die S-Bahn-Station Nordbahnhof, wo das braune Schild „Gartenstraße/Bernauer Straße“ zum richtigen Ausgang weist, ist eine Überraschung: Blank geputzte, kugelrunde Halbschalen als Tunnelbeleuchtung spiegeln sich in einer beinahe klinisch sauberen Unterführung.

Das Gefühl, Berlin verlassen zu haben, verliert sich im Tageslicht an der Straßenecke, wo die Bernauer Straße beginnt. Anstelle von Mauerresten begrüßt hier das grau-weiße Zelt vom „Swing Inn Musikcafé“ verwirrte Touristen. Wirtin Ella serviert neben roten Lichterketten „Original Hotdogs“, drapiert auf Servietten im „Stars-and-Stripes-Design“ mit Freiheitsstatue. Im Dämmerlicht der Kneipe thront eine Schaufensterpuppe in NVA-Uniform über den wenigen Gästen.

Die Glasstele

An der Bushaltestelle einige Meter weiter holt die deutsch-deutsche Geschichte aufmerksame Besucher das erste Mal ein. Eine Glasstele mit Aluminiumfassung und roter Markierung am oberen Rand lenkt den Blick auf den Gehweg und erinnert an den Tod von Ernst Mundt im September 1964. Bei dem Versuch, über die Mauer des Sophienfriedhofs von Ost- nach Westberlin zu fliehen, wurde Mundt von einem Haus auf dem Gelände des Nordbahnhofs beschossen und von einem Kopfschuss getroffen. Das Datum seines Todes ist auf der Steinplatte im Gehweg kaum noch lesbar. Allenfalls die abgetretene Inschrift „dem Unbekannten Opfer der Schandmauer“ erinnert daran, dass der Gehweg der Bernauer Straße einst das letzte Stück Westberlin vor der Mauer war. Die Grenze zwischen den Stadtteilen Wedding (West) und Mitte (Ost).

Die beiden älteren Damen mit den Blümchen-Plastiktüten, die hier auf den Bus warten, kramen beim Thema Mauer freundlich in Erinnerungen. „Das Schlimmste am Mauerbau war, dass ich am nächsten Tag im Wedding einen amerikanischen Film im Kino sehen wollte und nicht mehr rüber konnte“, sagt die ehemalige Obst-und-Gemüse-Verkäuferin lächelnd. Ihre 70-jährige Freundin, „das Schneckchen“, die als Gärtnerin ihr Leben lang im Wedding gewohnt hat, hat sie nach dem Mauerfall in ihrer Stammkneipe beim „Biermichel“ kennen gelernt.

Die Straßen links und rechts des Mauerstreifens sind für die beiden einfach „Zuhause“, auch die Steinplatte einige hundert Meter weiter, die an Ida Siekmann erinnert, die im August 1961 aus dem Fenster ihrer Wohnung in den Westteil springen wollte und dabei starb, beachten sie schon lange nicht mehr.

Der Mauerrest

Auf dem Weg zur nächsten Stele stellt sich für den Liebhaber endlich das „Ost-Feeling“ ein. Stahlstreben im Mauerbeton säumen den Gehweg, dahinter tauchen die gebogenen Flutlichter in der beginnenden Abenddämmerung den ehemaligen Todesstreifen in ein unwirklich freundliches Orange. Auf der anderen Straßenseite durchbrechen die magentafarbenen Telefonzellen vor der Diakoniestiftung Lazarus für einen Moment das Gefühl des Zeitsprungs.

Den Blick auf die Ostseite versperrt hier ein letztes Stück Mauer. Ohne Graffiti, ganz grau in grau, präsentiert sie sich dieser Teil der „Nationalen Gedenkstätte Berliner Mauer“ knapp 70 Meter lang den Besuchern. Die rostigen, dunkelbraunen Stahlwände des Stuttgarter Architektenpaares Kohlhoff & Kohlhoff umrahmen seit 1998 das Mauerstück zu einem abgeschlossenen Quadrat. Für Besucher ist die Fläche verschlossen, nur ein schmaler Schlitz im Beton gewährt Einblick auf den Todesstreifen.

Die Inschrift

„Rostlaube“ nennt Norbert Wegner die Installation respektlos. Der 36-jährige Bühnen- und Kulissenbauer schraubt am Gehweg gerade eine glatt polierte Metallplatte in eine der Glasstelen. Den neutralen Sätzen „Ort der Erinnerung an die Teilung der Stadt vom 13. August 1961 bis 9. November 1989“ wurde nach heftigen Protesten der Opferverbände die letzte Textzeile „dem Gedenken an die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft“ hinzugefügt. Wegner ist im Stress. Bis zum heutigen Kanzlerbesuch müssen die Stelen auf der Straße und die Ausstellung im gegenüberliegenden Dokumentationszentrum „Berliner Mauer“ fertig sein. Der Westberliner, der als Kind immer mit dem Fahrrad zur Mauer fuhr, ist stolz auf diesen Job, erinnert er ihn doch daran, „dass wir die Linken gerade erst besiegt haben“.

Dass der Kanzler kommt, hat Doris Marschke noch nicht gewusst. Sie lehnt in der Ackerstraße aus dem Fenster mit dem roten Stoffherz und beobachtet die Mittelklassewagen, die hier vor den Friedhöfen der Sophien- und der Elisabeth-Gemeinde übers Kopfsteinpflaster rumpeln. In das hellbeige gestrichene Haus, dessen fensterlose Brandmauer auf den ehemaligen Grenzstreifen ragt, ist die 50-Jährige erst 1990 eingezogen. So wie die meisten Ostberliner im Haus, denn „vorher durften hier nur NVA-Angehörige und Stasileute wohnen, weil das Haus in der Sicherheitszone lag“.

Die Baumreihe

Neben dem Haus kann sich der Fußgänger zwischen dem Trampelpfad durch kniehohe lila leuchtende Lupinen und Wildgräser und dem betonierten Grenzpostenpfad entscheiden. Eine dichte, sanft gen Osten geneigte schnurgerade Reihe von Ahornbäumen zeichnet hier den Mauerverlauf nach und versperrt die Sicht auf eine Kette von Mietshäusern im Stil der 60er-Jahre auf der Westseite.

Hier werden im Gras liegende Pärchen allenfalls von Weddinger Pitbulls und Ostberliner Promenadenmischungen gestört, deren Besitzer sich derweil lauthals über „die vielen Kanacken, die seit dem Mauerfall hierher gezogen sind“, aufregen. Und über die Leute, die in den grellweißen Neubau, der vor einem knappen Jahr an der Strelitzer Straße direkt auf dem ehemaligen Mauerstreifen errichtet wurde, einzogen. „Die rufen immer die Polizei, wenn sie einen Hund ohne Leine sehen“, klagt ein Tischler aus Sachsen, der 1980 in die Ackerstraße zog. „Vor der Wende war es in dem Viertel viel ruhiger und ordentlicher“, meint der 50-Jährige und zerrt Schäferhund „Teddy“ von dem grünen Gitterzaun rings um die „Kapelle der Versöhnung“ weg.

Da, wo im Januar 1985 Sprengladungen der DDR-Behörden zuerst das Kirchenschiff und dann den Turm der 1894 erbaute Versöhnungskirche sprengten, um „den Maßnahmeplan zur Durchführung von baulichen Aufgaben für die Erhöhung von Sicherheit, Ordnung und Sauberkeit an der Staatsgrenze zu Berlin-West“ abzuschließen, bricht sich heute die Abendsonne in der Holzverkleidung der vor eineinhalb Jahren neu eröffneten Lehmbaukapelle. Im Inneren geben Glasquadrate im Boden den Blick auf die Vergangenheit frei.

Eine US-amerikanische Fliegerbombe, Jahrgang 1945, wird einige Meter tief im Boden sichtbar, aber auch der Betonklotz, mit dem gleich beim Mauerbau 1961 die Hintertür der Kirche verschlossen wurde. Neben dem neuen Altar, einem schlichten Lehmquader, schmiegen sich die Überreste des Originalaltars – eine Abendmahlszene in dunkler Eiche – an die Wände.

Die Aussöhnung

Für Pfarrer Manfred Fischer, der 1975 als 28-Jähriger auf der Weddinger Westseite der geteilten Gemeinde das Pfarramt übernahm und lange Jahre „soziale Brennpunktarbeit“ in einer zunehmend verarmenden Arbeitergemeinde leistete, bedeutet der Bau der Kapelle ein wichtiger Schritt zur „Versöhnung nicht nur von Ost und West“. Mit der Lehmbauweise wolle man auch ein Zeichen für die Notwendigkeit der „Aussöhnung von Mensch und Natur“, für „die Verständigung der im Stadtteil lebenden Angehörigen von muslimischen, buddhistischen und christlichen Religionsgemeinschaften“ und für die Vergänglichkeit von Bauwerken setzen, sagt Fischer lebhaft.

Der Pfarrer erinnert daran, dass das alte Kirchenschiff früher den heute mit Granulat ausgestreuten Vorplatz und die Glockenstube, in der die drei alten Glocken von einer Holzkonstruktion geschützt werden, ausfüllte. Mit der Kapelle sollte „keine Rekonstruktion betrieben werden, sondern aus Altem Neues entstehen.“

Ginge es nach Jörn, dem Geografiestudenten aus der Wohngemeinschaft im Haus Strelitzer Straße 55, könnte „die ganze Geschichte einfach mal abgeschlossen werden“. Jörn ist genervt. Seit im vergangenen Jahr die TV-Dokumentation „Der Tunnel“ gezeigt wurde, „haben wir im Haus keine Ruhe mehr vor den Touristen und Kamerateams, die den Tunneleingang suchen“.

Am 3. und 4. Oktober 1964 stiegen hinter dem Haus, wo heute die Bewohner und der Seniorenladen im Erdgeschoss den Garten mit einer Feuerstelle, ein paar Blumen und eine verrosteten Hollywoodschaukel zum Nachbarschaftstreff umgestaltet haben, 57 Menschen in einen knapp 140 Meter langen Tunnel. Den hatten Studenten aus dem Westteil vom Grundstück einer stillgelegten Bäckerei in der Bernauer Straße 97 gegraben.

Während an der Ecke Strelitzer Straße eine letzte Stele an diese Flucht erinnert, sind im Hinterhofidyll zwischen sozialem Wohnungsbau und sanierten Arbeiterwohnungen keine Spuren des Dramas mehr zu sehen, das am dritten Fluchttag international Schlagzeilen machte. Da waren die Tunnelbauer von einem Informanten der Staatssicherheit verraten worden; beim Versuch, die Gruppe der Flüchtlinge aufzuhalten, wurde der 24-jährige DDR-Grenzsoldat Egon Schulz von einem anderen Grenzsoldaten erschossen.

Die offizielle Geschichte

Über drei Jahrzehnte strickte die offizielle DDR-Geschichtsschreibung an der Legende um den Tod von Egon Schulz. Die Tafel am Haus Strelitzer Straße 55 mit der Inschrift „In diesem Hausflur wurde am 5. Oktober 1964 der Unteroffizier Egon Schulz, geboren am 24. Januar 1943, bei der Ausübung seines Dienstes zum Schutz der Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik, durch Westberliner Agenten meuchlings ermordet“, steht heute auf einem grünen Aktenschrank im Dokumentationszentrum.

Dem Liebhaber reicht es inzwischen mit Mauergeschichten. Der Zug am Bahnhof Zoo zurück „nach Westdeutschland“ fährt in einer knappen Stunde. Da bleibt gerade noch Zeit für ein paar unbeobachtete Küsse am ehemaligen Grenzübergang.