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Auf einer drehenden Scheibe

Sommerloch (1): Die Mittelinsel des verkehrsumtosten Ernst-Reuter-Platzes in Charlottenburg eignet sich eigentlich für gar nichts. Außer für ein berauschendes Picknick am plätschernden Brunnen

von SILVIA LANGE

„Ein Picknick auf dem Ernst-Reuter-Platz? Da kann ich mich ja gleich bei mir an die Gitschiner Straße unter die Hochbahn setzen . . .“ Meine Freundin ist nicht zu überzeugen.

Dabei sieht der Flyer doch so einladend aus: ein schmaler, bunter Papierstreifen, der auf zwei Bildern die Mittelinsel des kreisrunden Ernst-Reuter-Platzes in Charlottenburg darstellt. Auf dem einen ist der Platz fast nicht wieder zu erkennen. Gemütlich zuckelt hier, offensichtlich in den Sechzigerjahren, noch die Tram im Halbkreis über die Grünfläche. Heutzutage brausen stattdessen nur noch jede Menge Autos in drei oder vier Spuren unaufhörlich im Kreisverkehr um die Insel, umrahmt von neun einzelnen, mindestens zehnstöckigen Hochhäusern. Kein optimaler Picknickort. Ich gehe trotzdem hin.

Es gibt nur einen direkten, aber dafür unterirdischen Zugang zur Mittelinsel – die Alternative ist, einen günstigen Moment abzupassen, um dann schnell vor den heranrasenden Autos über die Straße zu hetzen. Kein Wunder, dass normalerweise kaum jemand zufällig auf dem Platz verweilt. Über einer der vielen Parkbänke flattert eine orangene Decke, darauf steht ein üppiges Büfett. Darum herum gruppieren sich etwa dreißig junge Leute, die meisten von ihnen benutzen den Platz heute zum ersten Mal in dieser Form und sind davon ganz angetan.

Die Idee zum Picknicken hatten vier Geschichtsstudentinnen, die vor den konservativen Historikern der FU im beschaulich-grünen Dahlem zum progressiveren Fachbereich an die TU geflohen sind. Doch die inhaltliche Stärke der Antisemitismusforscher konnte das extrem urbane Umfeld des Ernst-Reuter-Platzes nicht ganz kompensieren: „Du steigst aus der U-Bahn, gehst durch eine Abgaswolke zum Telefunkenhochhaus und fährst mit dem Fahrstuhl in den Seminarraum.“ Das ist wohl selbst für hartgesottene Urbaniten zu viel der modernen Kälte, vor allem im neblig-grauen Wintersemester.

Um die alltäglichen Orte des universitären Umfelds positiv zu besetzen, zelebrieren die Studentinnen nun ihren eigenen „New Urbanism“ an dem in den späten Fünfzigern neu angelegten Platz: Picknick als Selbsthilfe für die angenehmere Wahrnehmung. Doch auch für nicht Vorbelastete hat es schon was für sich, schlemmend im Gras zu liegen, die wehenden Flaggen zu zählen (es sind 42!) und zu beobachten, wie die Goldelse in der Abendsonne noch güldener wird.

Nach einer Weile gewöhnt man sich auch an das Grundrauschen des Verkehrs, das fast vom Plätschern der Springbrunnen in den beiden rechteckigen Wasserbecken übertönt wird – aber nur, wenn sie in Betrieb sind. Wer seinen Blick auf eins der Hochhäuser fixiert und sieht und spürt, wie die Autos vor diesem Hintergrund im Kreis um die Insel sausen, der bekommt den Eindruck, auf einer drehenden Scheibe Karussell zu fahren.

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