Dämmerungsblau im Hinterkopf

In „Tokyo Lullaby“ von Jun Ichikawa sind Farben und Stimmungen genauso wichtig wie die Geschichte

Manchmal schaut man sich einen Film an, sitzt zurückgelehnt im Kinosessel und taucht ein in Bilder, die einen irgendwie wehmütig stimmen. Der Film ist auf eine zurückhaltende Art schön, wie Jun Ichikawas „Tokyo Lullaby“, doch wenn man später jemandem von dem Film erzählen möchte, fehlen einem die Worte. Man weiß nicht mehr, worum es eigentlich ging, irgendwann beim Gucken war einem die Geschichte abhanden gekommen, die Folge von Ereignissen und Handlungen, die aufeinander aufbauen, sich auseinander entwickeln und auf einen Höhepunkt oder eine Auflösung zusteuern und danach geht das Licht wieder an.

Statt einer Geschichte sah man nur noch die einzelnen Szenen und hatte dabei so ein unbestimmtes Gefühl für die Farben, die in dem Film vorherrschen, wobei der Begriff „herrschen“ viel zu stark ist. Wenn man also, ohne das Presseheftchen zu Hilfe zu nehmen, von „Tokyo Lullaby“ erzählen sollte, würde man vielleicht sagen, der Film zeichne sich durch ein schönes unaufdringliches Dämmerungsblau aus; ein Blau, das nach allen Seiten offen ist wie das Bewusstsein dessen, der auf dem Beifahrersitz sitzt und zwischen den Worten, die er mit dem Fahrer wechselt, damit der nicht einschläft, immer wieder fast, aber eben nicht ganz wegdriftet und in unbestimmte, sozusagen herrschaftsfreie Gedankenketten und Bilder fällt; ein Blau schließlich, das in dem Film vielleicht gar keine so große Rolle spielt – auch wenn die Tokioter Dämmerung wunderschön ist –, sondern vor allem so eine Art Gefühlsfärbung im eigenen Kopf ist.

Eine Szene des Films mit dem somnambulen Titel „Tokyo Lullaby“ hatte sich eingeprägt. Da war ein alter, dünner Mann im Krankenhaushemdchen in einem Krankenhausflur, und dieser Mann sang still vor sich hin: „Hitparade, Hitparade. Macht eure eigene Hitparade. Hitparade, Hitparade, streift den Lendenschurz ab.“ Das alltägliche Leben besteht nicht aus Geschichten, oder die Geschichten, die man aus dem alltäglichen Leben erzählt, bilden nur die Oberfläche, an der man sich festhält, um etwas erzählen zu können, das eigentlich nicht entscheidend ist.

Die Zurückhaltung, mit der Jun Ichikawa eine Geschichte erzählt, ist bewundernswert. Es geht also um Koichi Hamanaka, einen Mann so um die vierzig, der nach längerer Abwesenheit wieder zurückkehrt in die enge Gemeinschaft eines Tokioter Einkaufsviertels, das einmal sein Zuhause war. Niemand weiß, wo er die letzten Jahre war und was er gemacht hat, nachdem er seine Eltern, seine Frau Hisako, sein Kind und seine Geliebte Tami, die ein Teehaus führt, verlassen hatte. Hamanaka übernimmt wieder den Familienbetrieb, einen Elektronikladen, den sein Vater bislang geführt hat, und modernisiert ihn. Asakura, ein Schriftsteller, der vor allem ökonomische Texte übersetzt, weil kaum mehr jemand Romane lesen mag, und in Hisako verliebt ist, recherchiert die Vergangenheit von Hamanaka und Hisako. Am Anfang standen komplizierte Emotionen. Da waren Hamanaka und Tami ein Liebespaar. Doch Tami heiratete aus Mitleid einen anderen, der später starb, und Hamanaka heiratete Hisako, von der er dann davonlief. „Zartfarbig erscheinen die schweren Zeiten der Liebe“, hieß es in einer japanischen Kritik.

Amerikanische Regisseure hätten dies mit viel Existenzgetöse inszeniert. Hier ist alles still, und der Held sagt nach vierzig Minuten zum ersten Mal mehr als zwei Sätze hintereinander. Jun Ichikawa vertraut der wehmütigen Stimmung, die er mit seinen Tokioter Alltagsbildern inszeniert. Eine Frau, die im leicht heruntergekommenen Teehaus ein Essen macht. Familienfotos, auf denen alle Abgebildeten die Augen geschlossen haben. Ein alter Mann, der im Schneidersitz sitzt und seine Fußnägel schneidet. Herumlungernde Jugendliche mit Peacezeichenketten. Ein paar Sätze prägen sich ein: „Bei uns glaubt man, dass Kraniche 1.000 Jahre alt werden“, sagt eine chinesische Kellnerin. „Ein einzelner Tag ist lang, aber ein Jahr vergeht wie im Flug“, sagt Hisako, und irgendwann auch: „Was ich fand, war nur Ramsch, aber manchmal war ich in dieser Eintönigkeit auch glücklich.“

„Tokyo Lullaby“ entstand noch in den Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs. „In den Zeiten der Bubble-Ökonomie machte ich am liebsten stille Filme“, sagt Jun Ichikawa, „nun, wo die Seifenblase geplatzt ist und die Leute ihre Energie verloren haben, möchte ich Filme machen, die positiver und energetischer sind.“ DETLEF KUHLBRODT

„Tokyo Lullaby“. Regie: Jun Ichikawa, Japan 1997, 87 Min, noch bis 23.8., fsk, Segitzdamm 2, Kreuzberg