Klappenschrank und Hebdrehwähler

1881 nahm das erste Fräulein vom Amt seinen Dienst auf. 45 Jahre später wurde der Selbstwählbetrieb eingeführt

Heute vor 75 Jahren erlebte Berlin eine technische Sensation. Wer am 15. August 1926 in Mitte zum Hörer griff, wurde plötzlich automatisch mit dem gewünschten Anschluss verbunden. Die Berliner staunten: Kein lästiges Warten mehr, kein nettes Fräulein am anderen Ende, keine nervigen Fragen: „Hier Amt, was beliebt?“ Von einem Tag auf den anderen ging das alles wie von selbst. Grund: der moderne „Wählbetrieb“.

Ganz allein erledigte dieses Wunderwerk der Technik einen Job, für den viele Frauen nötig gewesen waren, die mit wohlklingender Stimme Kommunikationswünsche erfüllt hatten. Man landete ohne Umwege in Mutters guter Stube, um sich für den Nachmittag zum Kaffee einzuladen. Für die damaligen Verhältnisse – man empfand Telefonieren als schwierig und kompliziert – ein echter Fortschritt. Mit dem „Wählbetrieb“ war’s plötzlich ganz einfach.

Bei dessen Vorgänger waren reibungslose Verbindungen selten. „Klappenschrank“ hieß der Mechanismus, weil er eingehende Anrufe durch das Herunterfallen von Nummernklappen signalisierte. War man endlich an der Reihe, erfragte ein Fräulein das Begehr, um anschließend die gewünschte Verbindung herzustellen. Das gelang jedoch aufgrund des Lärms in den Call-Centern der Jahrhundertwende nicht immer.

Hektische Zurufe von Schrank zu Schrank hatten verwirrte Fräuleins zur Folge. Regelmäßig wurden Anrufer falsch verbunden, andere hingen wartend in der Leitung, weil sie im Trubel vergessen worden waren. Man kann sich die dramatischen Szenen in den frühen Jahren der Telekommunikation vorstellen. Schließlich kommt es auf jede Sekunde an, hat man sich in Mutters guter Stube erst mal so richtig am Kuchen verschluckt.

Dank des „Wählbetriebs“ ließen sich Kontakte schneller und sicherer herstellen. Erfunden wurde der Mechanismus allerdings aus einem anderen Grund. Der Amerikaner Almon Strowger kam der Legende nach aus Wut auf die verbindende Idee. Strowger arbeitete als Leichenbestatter und ärgerte sich täglich über die Damen von der Vermittlung. Die schalteten bei Todesfällen nämlich immer nur zu einem bestimmten Leichenbestatter durch.

Strowger wollte aber auch angerufen werden und Leichen unter die Erde bringen. Deshalb baute er 1889 den „Hebdrehwähler“, einen Vorgänger des Berliner „Wählbetriebs“. In der Nähe von Chicago wurde 1892 das erste automatische Vermittlungssystem in Betrieb genommen. Auch in Europa bastelten daraufhin mehrere Firmen an entsprechenden Geräten. In Deutschland lautete der Arbeitstitel für den famosen Mechanismus zunächst „Selbstanschlussbetrieb“.

Bis zur Einführung 1926 wurde daraus der „Wählbetrieb“. Von Mitte aus setzte sich die neue Technik in der gesamten Hauptstadt durch. Die Anschaffungskosten fielen zwar höher aus als bei den Klappenschränken, dafür waren die „Wählbetriebe“ leistungsfähiger und besser gegen Verschleiß gewappnet. Außerdem konnten zahlreiche Arbeitskräfte eingespart werden.

Die netten Fernsprechgehilfinnen wurden überflüssig. Das kam vielen Männern ganz gelegen. Zwar war schon damals bekannt, dass selbst gereizte Herren friedlich werden, wenn sie eine Frauenstimme hören. Aber umstritten waren die Telefonistinnen trotzdem. Das Briefgeheimnis sei bei ihnen nicht in Sicherheit, ihnen fehle die Durchsetzungskraft, und schwanger würden sie auch noch am laufenden Band, wurde gemäkelt.

CHRISTIAN TERIETE