zoologie der sportlerarten
: PROF. HIRSCH-WURZ über den Fußballfan

Meckerstunde für Bachstelzen

Der Homo tribunicus gehört zu den außergewöhnlichsten Vertretern in der Welt der Sportlerarten. Obwohl er keinen Finger krumm macht, außer vielleicht, um eine Bierflasche oder -dose ihres Kronkorkens oder ihrer Lasche zu entledigen, und seine Füße allenfalls einsetzt, um von der U-, S- oder Straßenbahn ins Stadion zu wanken, hält er sich für den Nabel des Fußballgeschehens. Dies trifft vor allem auf seine häusliche Variante, den Homo tribunicus schäselongus, zu. Während die Avantgarde der Spezies immerhin die Kunst beherrscht, ein ganzes Fußballmatch stehend und singend absolvieren zu können, beherrscht der häusliche Fußballfan lediglich seinen Fernsehsessel, dies allerdings so souverän wie Oliver Kahn seinen Fünfmeterraum oder, vielleicht sollten wir besser sagen, seine Torlinie.

Die Hauptbeschäftigung des Homo tribunicus schäselongus ist das Meckern. Er meckert über Spieler und Kommentatoren, über Trainer und Schiedsrichter, über zu viele Werbepausen und zu wenig Fußball, über zu viele Zeitlupen und zu wenig Tore. Gibt es spektakuläre Ausschnitte, kritisiert er, dass der Fußball schöngesendet wird, gibt es ganze Spiele, öden diese ihn an. Ohnehin meckert er gern über zu viele Live-Übertragungen, so als würde Gerhard Mayer-Vorderlader mit einem Hinterlader in seinem Genick sitzen und ihn zwingen, all das anzuschauen. Glaubt man ihm selbst, dann schaut er ja auch gar nicht, oder höchstens ein bisschen nebenher, wird aber fuchsteufelswild, wenn man es wagt, seine samstägliche Meckerstunde auch nur um die Länge einer Bundesligapartie zu verschieben. Ausgiebig bejammert er, dass es jeden Tag Fußball im Fernsehen gibt, als sei dies eine ihm auferlegte und direkt aus der Hölle importierte teuflische Fron. Jedwede Neuerung lehnt er konsequent ab, sei es Dreipunktemodus, Rückpassregel oder Champions League. Wortreich schwingt er sich zum Anwalt der kleinen Klubs und Länder auf, die nicht mehr mitspielen dürfen, wenn dann aber Dortmund gegen Donezk kickt, ist er beleidigt und guckt nicht. Niemals müde wird er, die Kommerzialisierung des Fußballs zu geißeln, wobei er sich mit seinem stadionzugewandten Kollegen, dem Homo tribunicus curvensis, trifft.

Dieser meckert auch gern, oft über dieselben Dinge wie sein domestizierter Artgenosse, aber im Gegensatz zu diesem leidet er auch. In erster Linie leidet er natürlich unter Gegentoren, aber er leidet auch unter Mitbürgern, die es wagen, ebenfalls ins Stadion zu gehen, aber ganz anders sind als er. Die also weder von Kopf bis Fuß in Vereinsfarben gewandet sind noch saufen wie die Bachstelzen, noch schmutzige Lieder in Zügen und Straßenbahnen singen und für die auch nicht eine Welt zusammenbricht, wenn der eigene Verein verliert. Kurz und gut: der Homo tribunicus curvensis verabscheut den Homo tribunicus tribunicus, weil dieser den Fußball nicht ernst nimmt. Wenn die Mannschaft verliert, verabscheut er auch die Spieler, die dann zu Scheiß-Millionären ernannt werden und eigentlich nichts zu suchen haben in seinem Verein. Werden allerdings zu wenige Scheiß-Millionäre gekauft und die Mannschaft verliert noch mehr, dann wird er richtig wütend, verbrennt seine Fahne und dreht dem Geschehen auf dem Rasen den Rücken zu – was aber außer den Hobbydramatikern vom Fernsehen keine Sau interessiert. Am Ende vergießt er ein paar Tränen und ab geht’s in die Zweite Liga, wo dann aufs Neue alles prima ist, weil ja wieder gewonnen wird und die Millionäre plötzlich gar nicht mehr so scheiß-millionärig sind. Geht es allerdings noch weiter abwärts, verliert auch der Homo tribunicus curvensis langsam die Lust und guckt lieber American Football, es sei denn, er ist eine Tote Hose und hat eine Scheiß-Million übrig.

Insgesamt gesehen ist das Dasein eines Homo tribunicus, und besonders jenes des curvensis, ein sehr trauriges. Inbrünstig sehnt er sich in die Zeiten eines Uwe Seeler zurück, am besten allerdings ohne Uwe Seeler, doch tief in seinem Innern weiß er, dass ihn eigentlich keiner mehr braucht, am allerwenigsten Spieler oder Vereine, und er einer rapide aussterbenden Sportlerart angehört. Nicht einmal der Fußball selbst spendet Trost, denn am Ende gewinnt immer nur der FC Bayern. Und dessen Anhänger sind keine Fußballfans, sondern ähneln eher Mitgliedern einer Regierungspartei.

Wissenschaftliche Mitarbeit:

MATTI LIESKE

Fotohinweis:Holger Hirsch-Wurz, 67, ist ordentlicher Professor für Humanzoologie am Institut für Bewegungsexzentrik in Göttingen.