Die Stimme der Stimmlosen in der Türkei

Der Chef der neu gegründeten Ak Parti, Recep Tayyip Erdogan, will das türkische Establishment aufmischen

Heute wird er von seinen Gefolgsleuten zum Vorsitzenden der neu gegründeten Ak Parti („Weiße Partei“) in der Türkei gewählt. Der 47-jährige Recep Tayyip Erdogan ist fest entschlossen, die „Stimme der Stimmlosen“ zu sein. Jüngsten Umfragen zufolge unterstützen ihn fast 40 Prozent. Fest steht, dass er im Herbst zum stärksten Oppositionsführer im Parlament aufsteigen wird.

So poetisch und pathetisch er stets seine Weltsicht erläutert, so erfolgreich schafft er sich auch Feinde. Wegen einer Rede im Südosten verlor er sein Amt als Bürgermeister von Istanbul und musste für vier Monate ins Gefängnis. Als Märtyrer herausgekommen, will er jetzt die Türkei retten. Sein Charisma wird ihm dabei eine große Hilfe sein.

„Tayyip“, wie er von Istanbuler Medien abfällig genannt wird, wurde 1954 in Istanbul geboren. Sein Vater kam aus Rize am östlichen Schwarzen Meer und arbeitete als Fährkapitän. Das Geld reichte für die fünf Kinder nie aus – schon früh lernte Tayyip, auf der Straße durch den Verkauf von Sesamkringeln und Bonbons die Familienkasse aufzubessern. Er wuchs in Kasimpasa am Goldenen Horn auf, einem ärmlichen, von Zuwanderern bewohnten Stadtteil.

Macho-Gehabe wurde als Ritual zelebriert – Erdogan kümmerte sich um die „Ehre“ des Viertels und besonders die der Frauen. Straßenfußball gehörte dazu – er spielte in der Amateurliga, bis sein Vater ihm diese Ambitionen ausprügelte.

Nach der Schule für Vorbeter studierte er Wirtschaft. 1976 trat er der islamistischen Partei Necmettin Erbakans bei. Als junger, dynamischer Macher stieg er in Istanbul schnell auf. Niemand konnte es fassen, als der vierfache Vater 1994 mit den Stimmen der gläubigen Zuwanderer aus Anatolien zum Bürgermeister der Metropole Istanbul gewählt wurde. Während die prowestlichen, modernen Eliten ihren Schock zu verdauen versuchten, machte er sich an die Arbeit.

Eine große Moschee auf dem zentralen Taksimplatz blieb genauso ein Projekt auf dem Papier wie die Umwandlung der Hagia Sophia vom Museum in eine Gebetsstätte. Aber sein Team räumte mit der Korruption auf und verbesserte das Stadtleben sichtlich – Sauberkeit und Ordnung hielten Einzug. Aber er verbot auch Alkohol in städtischen Einrichtungen, unter seiner Ägide häuften sich die Kopftücher auf den Straßen sichtlich, die Stadt teilte sich nach Lebensweisen.

Nach viereinhalb Jahren brachte ihn ein Vierzeiler, den er in Ostanatolien öffentlich aufsagte, hinter Gitter. „Die Minarette sind unsere Bajonette, die Kuppeln unser Helm, die Moscheen sind unsere Kasernen, die Gläubigen unsere Soldaten“ – das, meinten die Richter, ging zu weit und erfüllte den Tatbestand der Volksverhetzung. Er empfand das als Unrecht.

Erdogan kam langsam, aber gewaltig: Jetzt spaltete er die Islamisten und gründete seine eigene Partei. Neben dem Wortführer der gläubigen Konservativen will er auch der Robin Hood der Globalisierungsverlierer sein. Die Suche vieler Türken nach einer rettenden Vaterfigur wird ihm dabei behilflich sein. Die Krise hat ihn persönlich nicht tangiert: Durch eine Firmenbeteiligung soll er 60.000 Mark im Monat verdienen. So ist er eher die Stimme des „grünen Kapitals“ als die der Entrechteten und auf dem besten Weg, ein anatolischer Kohl zu werden.

DILEK ZAPTCIOGLU