Raus mit null

Prostituierte, die aus dem Milieu aussteigen, müssen nicht nur mit der Rache ihrer ehemaligen Zuhälter rechnen, sondern auch ohne Arbeitslosengeld, Sozial- und Rentenversicherung auskommen. Ein Gesetzentwurf, der Prostitution als Berufstätigkeit anerkennt, soll das ändern. Eine ehemalige Hure und ihre Sozialberaterin berichten

von MARIANNE MÖSLE

„Ja, Judith könnte ich heißen – das passt. Von Beruf war ich Fliesenlegerin. Musste ich aber aufgeben wegen der schweren körperlichen Arbeit. Ich bin anschaffen gegangen, sechs Jahre Hure, im dominanten Bereich. Vor einem Jahr bin ich ausgestiegen. In den Männern sehe ich immer noch die Freier.“

Judith ist nicht der richtige Name der zierlichen Frau mit den superkurzen, glänzend schwarzen Haaren und den grünen Augen. Es war ihr Künstlername im Milieu. Judith – wie die Hebräerin, die dem gegnerischen Feldherrn Holofernes einst das Haupt abgeschlagen hat. Bis vor zwei Jahren hat sie als professionelle Prostituierte gearbeitet. War Domina, hat Männer gegen Geld gefesselt, ausgepeitscht, sie gewickelt wie Babys oder mit Skalpell und Nadeln verarztet. Dann ist sie untergetaucht. Aber selten steigt eine Hure ungeschoren aus, kein Zuhälter gibt freiwillig eine lukrative Geldquelle auf, manch einer schickt sogar Kopfgeldjäger los.

„Mit 25 hab’ ich mich mit `nem eigenen Betrieb selbstständig gemacht, aber zuletzt hatte ich einen schweren Arbeitsunfall und jede Menge Schulden. Irgendwie war mir klar, dass ich meinen Beruf nicht mehr weitermachen konnte. Im Urlaub lernte ich meinen Freund kennen. Ein charmanter Typ, wie alle Zuhälter. Aber das wusste ich damals noch nicht. Er gab sich als Videothekenbesitzer aus und wollte mir helfen. Ein Äugchen für Menschen in Not, das hatte er, haben die alle. Wir haben über meine Schulden gesprochen, da erzählte er mir was von Telefonsex. Weil da viel Geld für wenig Arbeit zu verdienen sei. Ein paar Monate später stand ich aufm Strich. Und mein so genannter Freund hat abkassiert.“

Mit feuchten Händen und unruhigen Fingern rollt Judith den Zipfel einer Tischdecke im Beratungszimmer des Esslinger Gesundheitsamtes nach oben. Zerbrechlich wirkt die Aussteigerin und sanft, doch gleichzeitig auch entschlossen und drahtig. Sonst hätte sie wohl nicht durchgehalten. Doch, sie wolle gerne weitererzählen, sagt sie. Sich ihr früheres Leben, das keines gewesen sei, von der Seele reden.

Fünf Jahre lang hab’ ich mir bei den Freiern das Maul heiß geredet – Entschuldigung, das ist Milieujargon –, hab’ Falle geschoben, Stellungen vorgetäuscht und schreckliche Einblicke in die männliche Seele gehabt. Da kriegst du so `nen Ekel. Fünf Jahre angeschafft, immer für denselben Zuhälter, oft siebzehn Stunden täglich am Schott gestanden, sieben Tage in der Woche, sechsmal an Weihnachten. Es ist ein hartes Milieu, voll von Misstrauen, Lügen und Erniedrigungen. Erniedrigung vom Typen, vom Freier, vom Amt. So lange, bis man gefügig ist und kein Selbstwertgefühl mehr hat. Man ist der Willkür des Zuhälters und der Kolleginnen ausgeliefert, kommt nicht groß zum Nachdenken, viele Frauen werden mit Drogen ruhig gestellt und mit Alkohol gefügig gemacht. Wer sich wehrt, wird von den Jungs rangenommen.

Freunde außerhalb des Milieus gibt’s kaum, ein Doppelleben ist unsagbar anstrengend. Als meine Mutter davon erfahren hat, wollte sie mich sogar um Geld anpumpen. Weil ich doch angeblich so gut verdiene und auch noch Spaß dabei hab’. Aber ist das Spaß, wenn ein Freier die Pistole zückt? Ich hab’ in verschiedene Pistolenläufe geschaut, hatte Messer an der Kehle, wurde vergewaltigt. Es war Gewalt, Demütigung, Todesangst und Geld, viel Geld. Mein Zuhälter hat mich fast totgeschlagen – ich hatte panische Angst und wollte nur noch raus.“

Moderne Dreiviertelhose, ein knappes, schwarzes T-Shirt – hin und wieder rückt die hübsche Frau ihre elegante Brille zurecht, als müsse sie sich noch an sie gewöhnen. Völlig verändert habe sie sich in den vergangenen zwanzig Monaten, sagt Judith, innerlich wie äußerlich. Die Haare sind kürzer geworden, ihre Sprache behutsam, ihr Umgang mit Menschen weniger aggressiv als vorher. Dass sie das geschafft hat, darauf ist sie stolz. Ihr Exfreund sitzt mittlerweile hinter Gittern. Aber noch immer ist sie schreckhaft, hat Angst, ist auf der Flucht. Wer auszusteigen wagt, muss mit dem Schlimmsten rechnen. Dass eine Prostituierte ihren Zuhälter anzeigt, komme zwar hin und wieder vor – aber sie? Nein, sagt Judith, sie sei doch nicht lebensmüde.

„Ich wollte aussteigen, als ich gemerkt hab’, dass mein Geld nur für das Luxusleben des Typen draufgeht. Der verlangte einen Tausender pro Tag, dazu kamen fünfhundert Mark Auslagen, Miete und so weiter. Allein die Ausstaffierung meines Zimmers hat um die 120.000 Mark gekostet. Die Abstandszahlung an meinen Freund über hunderttausend. Auch seine Milieuschulden musste ich übernehmen. Ich hab’ zwei große Häuser verdient in dieser Zeit, bin aber mit null auf null rausgekommen. Viele Prostituierte steigen sogar mit doppelt so hohen Schulden aus, wie sie angefangen haben.“

Unter Polizeischutz und mit Hilfe des Weißen Rings kam Judith nach Süddeutschland zur „Botzi“, wie sie Ingeborg Botzenhardt vom Esslinger Gesundheitsamt liebevoll nennt. Mit ihrer Hilfe fand sie eine „süße, kleine Wohnung“, regelte Versicherungs- und Bankangelegenheiten und kam mit einem Haushaltsplan von den hohen Lebenshaltungskosten herunter, die sie als Hure gewohnt war. „Die Botzi“, sagt sie, „die hat der Hurengott für uns gebacken.“ Ihre ersten Gänge zum Sozialamt und zum Arbeitsamt machte sie in Begleitung der Sozialberaterin. Gegen jegliche Milieugepflogenheiten hatte sich Judith damals – zum Glück – von einer Sozialversicherungskasse aufnehmen lassen. Als Prostituierte, die wie Stuntmänner als Risikoklienten verbucht werden. Die Umschulung vom Arbeitsamt wurde ihr deshalb ohne Probleme genehmigt.

„Das erste halbe Jahr kannte ich nur meinen Balkon, den Weg zum Supermarkt und zu meiner Frau Botzenhardt. Ich hatte das Gefühl, als hätte man mir den Boden unter den Füßen weggezogen, so hilflos war ich und wahnsinnig verwirrt. Keinen vernünftigen Satz konnte ich sprechen. Am schwierigsten für `ne Aussteigerin ist der Umgang mit Geld. Solange du anschaffen gehst, ist ein T-Shirt von Versace kein Problem oder Sandalen für achthundert Mark oder ein gewöhnliches Frühstück für hundert. Und plötzlich soll man mit einem Sozialhilfesatz von 550 Mark im Monat auskommen? Da denkt man schon mal dran, jetzt schnell `nen Freier. Da muss man durch. Und wenn ich `ne teure Gesichtscreme kaufe, wäscht mir die Botzi den Kopf und sagt: ‚Hat au des wieder sein müssa?‘ “

Einen geregelten Tagesablauf einzuhalten, ist sehr schwer. Aber ich konnte doch nicht einfach nur rumsitzen. Wollte unbedingt und gleich etwas tun, arbeiten, lernen. Ich hab’ mit einer Ausbildung zur internationalen Kauffrau angefangen und mich selbst wahnsinnig unter Druck gesetzt. Mit guten Noten und so. Es war viel zu früh. Sobald etwas nicht perfekt war, reagierte ich gereizt. Ich hab’ mich mit Lehrern angelegt und sie beschimpft, übel.“

Unbewusst, als ob sie ihren eigenen Worten nicht immer traue, sucht Judith in kurzen Blicken zu ihrer Betreuerin Bestätigung. Manchmal setzt sie auch ein „oder?“ ans Satzende, ein „war’s nicht so?“. Folgen der jahrelangen Demütigungen. Psychosomatische Krankheiten wie Fieberschübe, Erbrechen, Durchfall und Gliederschmerzen zwangen sie dazu, ihre Umschulung nach einem halben Jahr abzubrechen. Dann Depressionen. Ingeborg Botzenhardt schickte sie zu einer Psychotherapeutin, von der Judith inzwischen sagt, sie sei ihre Rettung gewesen. Im März möchte sie mit einer neuen Umschulung beginnen.

„Zunächst bin ich jetzt einmal unheimlich auf Harmonie und Frieden bedacht. Nachts möchte ich endlich wieder durchschlafen können. Da habe ich totales Vertrauen in die Psychotherapie. Später will ich zusehen, dass ich die Bürokauffrau durchzieh’. Mit meinem Lebenslauf werde ich vielleicht Schwierigkeiten haben, es fehlen ja sechs Jahre. Mein Traum – aber das ist wirklich nur ein Traum, den ich wohl nie verwirklichen kann –, mein Traum wäre es, nach Borneo zu gehen und dort auf der Orang-Utan-Station verwaiste Affenbabys aufzuziehen.“

Berührungsängste sind Ingeborg Botzenhardt, 59, von der sozialen Beratung beim Esslinger Gesundheitsamt fremd. „Mutter Teresa der Huren“ wird die handfeste Frau genannt, die seit 25 Jahren Frauen und Männer aus dem Milieu betreut. Ihr selbstbewusstes Auftreten lässt keinen Zweifel an dieser Auszeichnung. Wird die Frau mit den humorvollen Augen bei ihren Besuchen in Puffs oder Prostituiertenwohnungen von Freiern gefragt, ob sie auch dazugehöre, antwortet sie lachend: „Seh’ ich so aus?“

„Im Milieu muss man bodenständig sein, man muss sich auskennen, realistisch und zuverlässig sein. Schweigepflicht und Datenschutz sind wichtig. Das geht nicht ohne Toleranz und viel Respekt vor den Menschen. Wenn ich einmal einen Fehler oder falsche Hoffnungen mach’ oder hintenherum was tu, das geht in ganz Deutschland rum. Die Frauen aus dem Milieu brauchen Zuwendung und ehrliche Antworten. Auch Konsequenz gehört dazu. Wenn jemand Termine nicht einhalten kann, bin ich sauer. Ich mach’ sie auf ihren Milieujargon aufmerksam. Und ‚Rufen Sie doch mal schnell für mich an‘ ist auch nicht drin.“

Im Schnitt achtzig Prostituierte und ein Dutzend Ehemalige betreut die Frau. Mit ihren zupackenden Händen ist sie dauernd in Bewegung, ordnet einen Stapel Papiere, notiert eine Adresse, greift zum Telefonhörer. Für Milieuaussteigerinnen hat Ingeborg Botzenhardt ein bundesweit anerkanntes Ausstiegsprogramm entwickelt. Judith ist nicht die Einzige, die zu ihr nach Esslingen geschickt wurde.

Die Frauen kommen oft ohne Termin. Dann setzen wir uns erst einmal zusammen, hier im Beratungszimmer. Man muss sortieren. Viele wissen nicht mehr, was wichtig ist, manche sind suizidgefährdet und brauchen eine psychologische Betreuung. Jede Frau ist anders, jeder muss man geben, was sie braucht.

Ich weiß, da muss was laufen. Und zwar gleich und sofort. Ich frag’ nach den Schulden, immer, dafür hab’ ich hier in Esslingen Kontakte zu einer Schuldnerberatung für Aussteigerinnen geknüpft. Dann geht’s um die sichere Unterbringung, und wer was bezahlt. Wird eine Prostituierte verfolgt, muss ich gucken, ob eine Namensänderung möglich ist.

Noch am selben Tag setz’ ich mich mit dem Sozialamt und dem Arbeitsamt in Verbindung. Wegen einer Beschäftigung oder einer Umschulung. Das funktioniert alles ganz unbürokratisch. Ich hab’ ein Netz aufgebaut mit tollen Ansprechpartnerinnen. Ohne sie könnte ich nicht arbeiten, sie sind wichtig.

Bei Drogenabhängigen müssen wir uns um ein Substitutionsprogramm kümmern. Für Frauen, die an keinen normalen Tagesrhythmus gewöhnt sind, einen Tagesplan aufstellen. Oder Haushaltspläne. Das heißt, wir schreiben auf, wie viel Geld wofür ausgegeben wird. Und dann überlegen wir, was man weglassen könnte, immer wieder, bis wir beim Sozialhilfesatz angekommen sind.“

Die Sozialberaterin sagt, was sie denkt, und hat keine Scheu, an allerhöchsten Stellen zu verhandeln. So ist es auch eines ihrer großen Verdienste, für Aussteigerinnen im Raum Esslingen einen doppelten Sozialhilfesatz für die ersten sechs Monate erkämpft zu haben. Mit Bußgeldern vom Amtsgericht werden Therapien finanziert oder, wo es notwendig ist, Hilfsmittel wie gebrauchte Computer oder Fahrräder angeschafft. Auch Spielzeug für Aussteigerinnen mit Kindern werden besorgt.

„Der Gesetzentwurf, wonach Prostitution nicht mehr als sittenwidrig eingestuft wird – wir hoffen alle, dass er rasch nach der Sommerpause verabschiedet wird – bringt Verbesserungen. Klar. Wenn die Prostituierte gesetzlich sozialversicherungspflichtig ist, kann sie später wenigstens mit Arbeitslosengeld und einer Rente rechnen. Oder Krankengeld. Wie oft schafft heute eine Hure nicht nur mit einem blauen Auge, sondern wirklich krank an, weil sie sich keinen Ausfall erlauben kann?“

Mit dem neuen Infektionsschutzgesetz, das die bisher vorgeschriebenen Kontrolluntersuchungen für Huren auf eine freiwillige und anonyme Basis stellt, ist Ingeborg Botzenhardt nicht glücklich. Wenn sich beispielsweise eine Prostituierte anonym untersuchen lässt und eine Syphilis- oder eine HIV-Infektion festgestellt wird, kann es sein, dass sie das Ergebnis gar nicht abholt. Das Gesundheitsamt liefere keine keimfreien Huren mehr, formuliert Botzenhardt flapsig und setzt ein „Achtung!“ für den Freier hinzu.

Manche von ihren Schützlingen lassen sich nicht mehr bei ihr blicken, tauchen unter, vielleicht krank. Hin und wieder greift die „Mutter Teresa der Huren“ dann zum Telefon, erkundigt sich, weil sie sich Sorgen macht. Nicht bei Judith. Von ihr weiß sie: „Judith ist eine Kämpferin.“

MARIANNE MÖSLE, 41, taz.mag-Autorin, lebt als freie Journalistin in Tübingen